Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 18. September.

Es kommt eine schwere Zeit: der Endkampf! Für Deutschland und Österreich-Ungarn bietet er wenig günstige Aussichten. Besser gesagt: keine. Die Zentralmächte können nicht darauf rechnen, nach diesen erschöpften vier Jahren den Kampf gegen die Welt zu bestehen. Amerika vermag 24 Millionen aufzustellen. England ist nicht geschlagen, Frankreich, das am meisten gelitten, lebt auf unter dem moralischen Einfluss der starken Hilfe, die ihm zuteil wird, und unter den Sympathien der ganzen Welt.

Für Deutschland gibt es nur zwei Wege: Abdankung der Machthaber des alten Gewaltsystems und Herstellung einer Demokratie oder weitere Hinopferung von Millionen Menschen und völlige Vernichtung der Lebenskräfte des deutschen Volkes, um dann das Diktat der Sieger auf sich zu nehmen.

Der erste Weg könnte einen glimpflichen Frieden bringen und die Aussicht auf Erstarkung im kommenden Wettbewerb. Die heutigen Machthaber werden aber den zweiten Weg gehen und, um den Versuch ihrer eigenen Rettung zu wagen, das deutsche Volk vollends in den Abgrund stürzen.

Für Österreich-Ungarn gäbe es nur die eine Rettung: völlige Demokratisierung und Föderalisierung in beiden Staaten der Monarchie, Loslösung von Deutschland, Separatfrieden und Neutralitätserklärung für die weitere Kriegszeit.

Der Verzweiflungskampf um die Existenz der alten Gewalten kann lange dauern. Er wird um so blutiger werden. Vom pazifistischen Standpunkt aus wäre mit einem Sieg der Entente wohl mehr erreicht als mit einem deutschen Sieg; aber der Erfolg der Heeresgewalt, wenn auch seitens der Demokratie, ist keine Niederlage des Gewaltsystems. Diese wäre allein erreichbar durch einen unentschiedenen Krieg, durch ein Versagen der Militärgewalt als Mittel. Immerhin — der Sieg der Entente würde den Irrtum des para bellum beweisen. Denn weder England noch Amerika waren auf den Krieg vorbereitet, während die am meisten vorbereiteten Mächte, Deutschland, Österreich-Ungarn und Russland, unterliegen, Frankreich und Italien nur mit Hilfe der unvorbereiteten Mächte siegen würden.

Wir gehen schweren Zeiten entgegen.

Auf Vernunft ist kaum noch zu rechnen, so muss die Welt erst aus den Fugen gehen, um glücklich zu werden. Glücklich, nach uns!