Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 6. Dezember.

Die Rede, mit der am 3. Dezember der Ministerpräsident Salandra die Sitzungen des italienischen Parlaments eröffnete, klingt nicht sehr friedlich. Er sagte, dass Italien seine Stellung als Grossmacht behaupten und sie nicht nur unversehrt erhalten wolle, sondern auch so, dass sie nicht durch die möglichen Vergrösserungen anderer Staaten relativ gemindert werde. «Daher musste und wird notwendigerweise unsere Neutralität keine untätige und lässige, sondern eine tätige und wachsame sein, nicht eine ohnmächtige, sondern eine stark gewappnete, die jeder Möglichkeit gewachsen ist.» (Andauernder, lebhafter Beifall. Die gesamte Kammer erhebt sich und bringt dem Ministerpräsidenten eine lebhafte Huldigung dar.)

Das klingt nicht «neutral», besagt vielmehr, dass Italien zwar nicht am Krieg beteiligt ist, wohl aber am Friedensschluss beteiligt sein will. Das wird den Krieg erbitterter, den Frieden schwieriger machen. Italien wird ohne Einsatz gewinnen wollen. Wenn die Kriegführenden bereits erschöpft sein werden, wird es das Schwergewicht seiner noch unberührten Kriegsstärke in die Wagschale werfen. «Vae victis!» wird es dann heissen.

Es kann sich als wahr herausstellen, was ich immer verkündet habe, dass die eigentlichen Sieger in einem europäischen Krieg die nicht daran beteiligten Staaten sein werden.