Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 5. Februar.

Nach allen Äusserungen aus Deutschland hat man dort diesen Schritt Wilsons erwartet. Man erwartet sogar noch mehr. Dennoch erklärt man, dass alle Konsequenzen in Erwägung gezogen wurden, ehe man den uneingeschränkten Unterseebootkrieg ankündigte. Dass Deutschland jetzt die 120 Millionen Bewohner der Vereinigten Staaten auch noch zu Feinden hat, dass eine Weltkoalition entsteht, durch den Sieg der Alldeutschen die Welteinkreisung glücklich zuwege gebracht wird, darum scheint man sich wenig zu kümmern. Wenigstens für den Augenblick nicht. Was die Zukunft bringt, scheint nicht interessant genug zu sein, um die Handlungen der Politik darnach einzurichten.

Man lebt in Deutschland in einer Romantik befangen, die die Geister von den Realitäten der Gegenwart ablöst und ihnen eine Weltanschauung einflösst, die zu den Anschauungen der übrigen Welt im härtesten Gegensatz steht. Man fühlt sich trotz dieser, aus dem Mittelalter stammenden Romantik auf dem Boden der realen Politik stehend und merkt nicht, dass man diesen Boden schon längst verloren hat und unsicher in der Luft schwebt. Auf Grund dieser romantischen Weltanschauung suggeriert man sich heilige Rechte, eine unantastbare Folgerichtigkeit des Handelns, hält man sich selbst von den andern verfolgt und bedrängt, nicht ahnend, dass man sich mit der Wirklichkeit, die anderes Denken, anderes Handeln, anderes Urteilen erfordert, in schreiendsten Widerspruch setzt. Jetzt wird man sich mit der alten Kinderweisheit «Viel Feind, viel Ehr’» trösten, ohne einen Augenblick darüber nachzudenken, warum denn diese «viel Feind» da sind, und ohne sich zu fragen, ob denn diese Feinde wirklich nur mutwillige Bestien seien, die keinen andern Zweck haben als das arme verfolgte deutsche Volk zu bekämpfen. Die kriegerische Romantik, in deren Geist die beiden letzten Generationen Deutschlands erzogen wurden, ist schuld an all diesem Übel, an dem Krieg selbst, an dem Umfang, den er angenommen hat und an dem Verderben, das er für das deutsche Volk bringen wird. Denn jetzt fängt man an, zu zweifeln, dass der Krieg noch durch einen Vernunftschluss zu Ende gebracht werden kann. Wenn nicht in kurzer Zeit dem deutschen Volk ein Retter erscheint, wird der rohen Gewalt gegenüber die rohe Gewalt den Ausschlag geben, wird die Masse der Feinde die Minderheit der Zentralmächte überwinden. Daran können grosse Erfolge nichts ändern. Diese können höchstens das Unglück des Kriegs auf Jahre hinausziehen.

Noch kein Monat ist vergangen seit jenem Festmahl in Berlin, das dem amerikanischen Botschafter zu Ehren gegeben wurde, seitdem dieser die Worte gesprochen hat, dass zu keinem Zeitpunkt seit der Gründung des deutschen Reichs die Beziehungen zwischen den beiden Staaten besser gewesen seien als in jenem Augenblick, und dass er der Zuversicht Ausdruck gab, diese Beziehungen werden so bleiben, so lange Männer wie Bethmann Hollweg, Zimmermann, Helfferich an der Spitze der Geschäfte stehen. Heute sind zwischen diesen beiden Staaten die diplomatischen Beziehungen abgebrochen, der gefeierte Botschafter Gerard verlässt Deutschland. Bethmann Hollweg ist aber immer noch an der Spitze der Geschäfte. Wer wurde damals getäuscht, wer liess sich täuschen?

Bethmann Hollweg, der noch immer im Amt ist, der es vorgezogen hat, sich unter das Joch der Alldeutschen zu beugen, muss es sich jetzt gefallen lassen, dass er von deren Häuptling noch obendrein verhöhnt wird. Am 2. Februar hatten die Alldeutschen zu einer riesigen Siegesversammlung nach der Berliner Philharmonie geladen, in der Graf Reventlow den Triumph durch eine Rede feierte. Er verkündete, dass an der nun getroffenen Entscheidung keine Mächte Deutschland mehr hindern werden. Dafür bürgen Hindenburg und Ludendorf. Also nicht Bethmann. Diesen begnadigte Reventlow mit den Worten: «Darum verzichten wir auch heute auf eine rückschauende Kritik. Im Himmel ist ja mehr Freude über einen Sünder, der Busse tut, als über 99 Gerechte!» Grosse Heiterkeit folgte diesem gnädigen Hinweis auf Bethmann. Hierauf dankte Reventlow dem Kaiser und der obersten Heeresleitung und dem Gross-Admiral Tirpitz. Ein Reichskanzler existiert für den alldeutschen Helden gar nicht mehr, der nunmehr seine «deutschen» Kriegsziele darlegte mit den weitgehendsten Annexionen, mit einer Freiheit der Meere, die aber nicht etwa eine «internationale» sondern eine «deutsche Freiheit» sein müsse.

So triumphiert die Blut- und Eisenpolitik der Alldeutschen und der pazifistische Kanzler vom 9. November 1916 macht diesen Tanz um den blutigen Moloch mit. Einstweilen aber hat sich, durch die deutsche Ultra-Politik getrieben, in der Welt draussen die «League to enforce peace» gegen Deutschland, gegen die Zentralmächte verwirklicht, wo es in der Hand dieser Regierungen gelegen hat, sie mit zu bilden. Dasselbe Spiel wie mit der europäischen Einkreisung von 1905 vollzieht sich jetzt bei dieser Welteinkreisung von 1916. Wieder Auskreisung, nur Auskreisung infolge völligen Nichtverstehens der Stunde und ihrer Erfordernisse, infolge des verzückten Deliriumschlafes in den Ideen einer idealistischen Ritterromantik, die die politischen Bedürfnisse eines modernen Volks in der modernen Welt befriedigen soll. Deutsches Volk, betörtes Volk der irregeführten Idealisten, erwache!