Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 23. Dezember.

Gestern abend mit Prof. N. und dessen Frau und dem Nationalrat Sch.-F. zu gemeinsamem Abendessen. Hierauf in den originellen, seit 1635 bestehenden «Klötzlikeller». Der Raum wie eine enge Stube, niedrig, altehrwürdig. Platz für 20 Personen. Diese sassen dicht gedrängt. Lustige, singende Gesellschaft besserer Kreise. Deutsche Kneipgemütlichkeit. Momente des Vergessen. Gewärmt und angeregt durch guten Sassella-Wein gegen 12 1/2Uhr nach Hause. Und des Morgens liest man dann wieder die Berichte von dem meterweisen Vordringen der einen oder andern an der Yser, im Argonnenwalde, von abgeschlagenen Angriffen, zahlreichen Toten, Verwundeten, Gefangenen, von Bajonettangriffen und eroberten Schützengräben. An einem solchen Morgen, nach einigen Stunden des Vergessens, kommt einem dieses wahnsinnige Ringen um Boden, um Häuser, um Bäume erst recht entsetzlich vor. Wie sind doch die Menschen zu bedauern, die von ihrer Arbeit fortgerissen, ihrer Familie geraubt, plötzlich Jahre, Jahrzehnte ihres Lebens hingeben müssen, um all diese entscheidungslosen Erfolge zu bezahlen. Und gibt es gar kein Erwachen aus dieser Verbohrtheit? Gibt es keine Möglichkeit der Besinnung, dass hier ein böser, längst erloschener Trieb aus Urzeiten kümmerlich erregt worden ist, ohne Not, ohne Zwang, einfach nur aus einer verkehrten Weltanschauung heraus? Würden diese Menschen, die da jetzt in Urzeithöhlen wohnen und morderpicht sich gegenüberstehen, nicht friedlich ihrem Berufe nachgehen, wenn das Kommando nicht erschallt wäre, das sie gegeneinander führt? Und musste dieses Kommando erschallen?

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Die Meldung über den deutschen Sieg in Polen vom 17. Dezember (siehe Tagebuch vom 18.) scheint ein Bluff oder eine arge Übertreibung gewesen zu sein. Meine Bedenken scheinen sich zu bestätigen. Die in Aussicht gestellten näheren Berichte sind ausgeblieben. Von der «Entscheidung», von der in jenem Berichte die Rede war, und von dem «Niederbrechen» der russischen Offensive merkt man nichts. Die Stilisierung jener Siegesmeldung war derart, dass man wähnen konnte, nicht nur die Schlacht, nein, der Feldzug sei gewonnen. Allmählich werden sich die Menschen doch daran gewöhnen müssen, dass es im modernen Krieg Entscheidungsschlachten nicht gibt, sondern ein unausgesetztes Ringen nur, innerhalb dessen der eine oder der andere seine Stellung verbessern kann, ein Vorschieben erreichen oder ein Zurückschieben erdulden mag, ohne dass an den Chancen des Krieges irgend etwas sich ändert. Allmählich werden sich die Menschen auch daran gewöhnen müssen, einzusehen, dass der Krieg unter solchen Umständen lange dauern muss und nur durch ein gegenseitiges Verbluten endigen kann.

Naumann schreibt in seiner Kriegschronik (12. Dezember): «Die Tatsache der nun über drei Monate fast unverändert bestehenden gegenseitigen Belagerungslinien ist sicher das merkwürdigste Ergebnis der bisherigen Kriegsführung. Soviel uns bekannt, hat niemand in der ausgedehnten militärischen Literatur diesen Fall vorgesehen, der uns, da er vorhanden ist, beinahe als natürliche Folge des Bewaffnungssystems erscheint. Die Verteidigung ist stärker als der Angriff ...» — «Soviel uns bekannt», ja warum war Johann von Bloch so ein verruchter Pazifist, dessen Schriften man nicht zu lesen braucht? Er hatte diesen Fall vorausgesehen, und die pazifistische Propaganda hat stets auf seine Lehren hingewiesen. Südafrika, Mandschurei, der Balkan haben ihm recht gegeben. Natürlich nur soweit seine Lehren sich auf diese Kriegsschauplätze bezogen. Sie waren aber ausdrücklich im Hinblick auf den Krieg der gleichmässig gerüsteten europäischen Militärmächte auf europäischen Kriegsschauplätzen gemünzt. Und wenn Naumann (a. a. O.) zu dem Ausrufe kommt «Ist es nicht eine merkwürdige Logik, mit der der Krieg, wenn er auf diese Weise zum Stehen gekommen ist, sich selber tötet?», so müssen wir ihm erwidern, dass wir das seit einem halben Menschenalter wissen und uns bemüht haben, die denkenden Teile des Volkes zu einem Insaugefassen dieser merkwürdigen Logik anzuregen. Leider blieben unsere Versuche vergeblich.

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Die Professoren der Nationalökonomie an der Universität Berlin erlassen im Verein mit andern Gelehrten einen Aufruf an die Bevölkerung, um diese zu haushälterischem Umgang mit Nahrungsmitteln zu veranlassen. Man solle jeden irgendwie noch brauchbaren Abfall verwenden, das Weissbrot den Kranken lassen, keine Kuchen backen, und statt Brot möglichst Kartoffel geniessen. Auch an Fleisch, Fett und Butter solle man sparen. Es wird der Anschauung Ausdruck verliehen, dass an allen diesen Lebensmitteln bald Knappheit eintreten müsse. Eingangs wird darauf hingewiesen, dass England mit diesem Zustand rechne, um Deutschland zu einem ihm genehmen Frieden zu zwingen.

Diese Gefahr ist ernst. Dass man das offen zugibt, wo man so sehr bemüht ist, über alle Gefahren hinwegzutäuschen und dem Volk die zuversichtlichste Stimmung zu erhalten, lässt erkennen, dass man auch in den Kreisen der Regierung über diese Dinge nicht ohne Sorge ist. Aber es sind doch Verhältnisse, die man vorausgesehen haben muss. Und man hat sie auch vorausgesehen, denn ich erinnere mich, dass man die Errichtung der deutschen Flotte hauptsächlich damit begründete, dass man im Falle eines Krieges dem deutschen Volk die Zufuhr der Nahrung sichern müsse. Es zeigt sich doch, dass die Flotte dafür ein unzulängliches Mittel gewesen ist. Was nützen die in ihr investierten Milliarden dem deutschen Volk? Den Raub der deutschen Kolonien konnte sie nicht verhindern (die offizielle Erklärung, dass deren Schicksal zu Lande entschieden werden wird, bestätigt erst recht die Überflüssigkeit der Flotte), und die Sorge um die Ernährung konnte sie dem deutschen Volk doch nicht nehmen. Der Einwand der Flottenenthusiasten, dass eben die deutsche Flotte noch immer nicht gross genug war, dass man sie nach dem Kriege erst recht ausbauen müsse, ist hinfällig, wenn man sich klar darüber ist, dass jedes Wachstum der deutschen Flotte das Wachstum der englischen bedingt. Die deutschen Marinepolitiker glichen in ihrem Gebaren, die englische Flotte überflügeln zu wollen, einem zwölfjährigen Knaben, der sich alle Mühe gibt, ebenso alt zu werden wie sein fünfzehnjähriger Bruder. Wenn er dessen Jahre nachgeholt hat, bemerkt er erst, dass der andere wieder um drei Jahre älter geworden ist.

Auf all das haben wir hingewiesen. Unsere Argumente wurden nicht beachtet. Jetzt bleibt nur die Hoffnung, dass unter den Ängsten dieses Krieges die Vernunft heranreift, die wir stets als die Voraussetzung der Wirksamkeit unserer Propaganda ersehnten. Man hätte aber dieses zu erhoffende Ergebnis unter geringeren Opfern erreichen können, wenn man gewollt hätte.

Ein Beispiel des durch den Krieg ausgelösten Zuckens der Intelligenz bietet Pastor Gottfried Traub, der eine unglaublich umfangreiche literarische Tätigkeit entfaltet. Eines seiner Elaborate («Hilfe» vom 17. Dezember 1914) will ich hier festhalten. Es betitelt sich «Mitleid», und es ist immerhin interessant zu sehen, wie ein Diener der Religion der Liebe über das Mitleid denkt.

«Der Soldat», so heisst es da, «der den Feind kampfunfähig macht, handelt sittlich. Jede Kugel, die nicht trifft, verlängert den Kampf, bedroht nicht nur des Soldaten eigenes Leben, sondern auch das seines Kameraden, bedeutet eine neue Gefahr für Weib und Kind und Vaterland. Mitleid wird hier nicht nur zur Narrheit, sondern zur Unsittlichkeit. Es klingt ergreifend, wenn einer aus dem Felde schreibt: ,Ich kann auf diesen Menschen nicht schiessen’, aber es ist nicht menschlich gedacht, sondern unmenschlich. Denn er tötet durch sein Zaudern nur den Freund, statt dass er Leben und Frieden schützt, indem er den Gegner möglichst rasch niederzwingt.»

Dagegen ist vom kriegstechnischen Gesichtspunkt sicherlich nichts einzuwenden. Aber es spricht hier nicht ein General zu uns, sondern ein Pastor. Von dem möchten wir doch die Erklärung hören, wie er über eine Institution denkt, wo derartige Handlungen, derartige Unterdrückungen des Mitleids noch «sittlich» sind. Muss eine solche Institution nicht den Höhepunkt der Unsittlichkeit, der Unmenschlichkeit bedeuten? —

Weiter:
«Ist aber der Feind entwaffnet, so ist er Mensch wie jeder andre auch. Sie stehen beide unter demselben Geschick und feilen beide ihres Volkes Schuld oder Unschuld. Die Soldaten im Feld finden sich untereinander viel leichter zurecht. Sie stehen immer vor den letzten Entscheidungen. Ihre Sittenlehre vollzieht sich verhältnismässig einfacher oder, sagen wir besser, geradliniger als für uns hinter der Front. So gibt es heute manche, welche russische und englische Mütter bemitleiden, dass auch sie Weihnachten einsam feiern. Wohlan! Trage Dein Mitleid zuerst in Deines Nachbars Haus, oder gehe in der Großstadt in die Kellerwohnung und steige in den fünften Stock und lass dort Dein Mitleid strömen, hell und stark. Es ist keine Sünde, wenn Du Dein Herz ausgibst und nachher keine Kraft mehr findest, die andern jenseits der Grenze wirklich zu bemitleiden. Warum führen sie den Krieg denn weiter? Warum haben sie den Frieden gebrochen?»

Was soll man hier zuerst erwidern? Schliesst denn das Mitleid für die russischen und englischen Mütter das Mitleid für das Nachbarhaus aus? Ist nicht das Mitleid für jenes gerade die Voraussetzung für das andere? — Verwechselt hier Traub nicht das Empfinden mit der Betätigung? Es scheint, als ob er fürchten würde, deutsche Arme würden bei der Fürsorge zu kurz kommen, wenn einer das Elend der englischen und russischen Mütter erfasst und deshalb zu Empfindungen für diese Unglücklichen gelangt, die seiner Menschlichkeit nur Ehre machen? Dieses Nacheinander der Empfindungen, das Traub hier annimmt, gibt es gar nicht. Was wir empfinden ist allgemein. Nur die Betätigung dessen, was wir empfinden, können wir schön in Reihenfolge bringen. Es bedarf gar keiner Kraftanstrengung, um für unsere Mütter und auch für die Mütter der Feinde zu empfinden. Die Gefahr des «Ausgebens» besteht nicht für das Herz, sondern nur fürs Portemonnaie. Herz und Portemonnaie sind aber nicht das selbe.

Wäre das Mitleid so der Begrenzung zugänglich, wie Traub glaubt, dann würde es auch nicht des Elends und Schmerzes unserer Landsleute sich annehmen können. Es würde im eigenen Hause (Warum im Keller oder in der fünften Etage? Hier spielt wieder der Portemonnaiegedanke mit, denn Mitleiderregendes findet sich heute in allen Kreisen!) die Grenzen seiner Kraft finden.

«Warum haben sie den Frieden gebrochen?» Wie seltsam! Will Traub uns weismachen, dass die englischen und russischen Mütter und Frauen, dass alle jene, die heute unter dem Krieg zusammenbrechen, den «Frieden» gebrochen, diesen Krieg herbeigeführt haben?

Ja, er will es; denn er schreibt;
«Es ist ungerecht, Einzellos in den Vordergrund zu schieben. Jetzt handelt es sich um Volkesschuld und Volkeswille; in ihm versinkt das Einzelschicksal, weil es ganz mit ihm verwoben bleibt. Wir sahen diese Fäden des Gewebes in Friedenszeiten nicht so deutlich. Sie waren auch damals stark und unzerreissbar. Aber der Einzelne hob sich vielleicht mehr ab. Heute trägt ein Jeder seines Vaterlandes Los, weil er selbst nur ein Stückchen dieses Vaterlandes ist. Darum bemitleide ich auch jene Einzelnen über der Grenze wenig, weil sie den Krieg fortführen, und so Schuld tragen am gemeinsamen Kampf. Und wenn ihr sagt: ,Auch sie können nichts für den Krieg; das ist Sache ihrer Regierungen’, so antworte ich, dass Völker die Regierungen haben, die sie verdienen.»

Dass Völker die Regierungen haben, die sie verdienen, ist ein guter Feuilleton-Witz, Herr Pastor, aber nicht Staats- oder Geschichtsphilosophie. Ist dem Herrn Pastor nicht bekannt, dass es überall Mehrheiten gibt, die ohnmächtig sind gegen geringfügige Minderheiten, denen die geschichtliche Entwicklung die Macht in die Hand gegeben hat? Ist es dem Herrn Pastor nicht bekannt, dass es in allen Kulturländern ein heftiges Ringen gibt, um den Willen der Völker in den Regierungen zum Durchbruch zu verhelfen? Will er uns wirklich glauben machen, dass das russische Volk die Regierung hat, die es verdient? Und wenn er das meint, wie will er es gutheissen, dass der Krieg, den Deutschland führt, sich gerade in erster Linie gegen den Zarismus richtet, das heisst, dass er für die Befreiung des russischen Volkes von einer Regierung eintritt, die wir damit als unverdient betrachten?

Man sieht, wie weit man mit der zügellosen Phrase kommt.

Wir wollen das russische und polnische Volk befreien und sollen ihm kein Mitleid gönnen dürfen?

«Aber ich denke weiter und glaube, dass auch die einzelnen Vertreter dieser Regierungen nicht allein schuld sind, sondern sich jetzt ein Völkerschicksal entlädt wie ein Gewitter?»

Ich habe aus den verschiedenen Weiss-, Gelb- und Blaubüchern usw. keinerlei Merkmale entnommen, die auf ein Gewitter schliessen lassen, sondern nur Menschen handeln gesehen, die feilschten und mäkelten, und solche, deren geheime Absichten ganz deutlich zutage traten. Oder meint Pastor Traub, dass die vorzeitige russische Mobilisierung irgend einer magnetischen Entladung zu verdanken ist statt einer Machenschaft des Grossfürsten Nicolaijew?

Der Artikel schliesst:
«Eben darum stehe ich mit meinem Mitleid da, wo es zunächst gehört und zuerst erwartet wird, und weiss, dass ich da genug zu tun, zu geben, zu erfahren habe. Aber ich finde kein Unrecht darin, wenn man die persönliche Teilnahme wirklich einmal persönlich beschränkt und sie zum eigenen Volke trägt. Du hattest hier früher viele Menschen nicht gekannt, die es wert gewesen wären, und bist an Hunderten mitleidslos vorbeigegangen. Der Krieg hat sie in Deine Nähe gebracht. Entdecke sie! werde heimisch in Deiner Volksseele und trage das Leid, das über sie gekommen ist, aus innerlichster Seele mit. Das ist unsere sittliche Aufgabe.

Wenn Du Deinen Bruder liebst, den Du siehst, wirst Du auch Deinen Feind lieben, den Du jenseits der Grenzen weisst. Aber nicht umgekehrt. Unsere Feindesliebe ist echt und wahr, wenn sie sich zuerst am Nachbar erprobt; sie war oft ein blosses Paradestück, mit dem man sich losgekauft hat, gerade von der nächsten sittlichen Pflicht. Lernen wir mit leiden, wirklich und unverkürzt, wo es uns an Herz und Nieren geht, aber seien wir vorsichtig gegenüber dem allgemeinen Mitleid, das oft eine recht billige Sache ist und gar nicht leidet.»

Zum Schluss erinnert sich Pastor Traub anscheinend des Gebots seiner Religion «Liebe Deine Feinde». Nun sucht er diesem Gebot gerecht zu werden, indem er schnell noch die Feindesliebe zugibt, aber — nachher. Er glaubt sogar, der Feindesliebe zu dienen, wenn er das Mitleid und die Liebe für den eigenen Landsmann in Anspruch nimmt. Zuerst absolviert er uns, wenn wir nach Ausgeben unseres Mitleides für unsere Nächsten keines mehr übrig haben für jene jenseits der Grenze; denn diese haben das so verdient, weil sie den Krieg gewollt haben. Und dann sagt er uns, dass wir doch unsern Feind lieben, den wir jenseits der Grenze wissen, wenn wir den eigenen Bruder lieben.

Man sieht, in welche Widersprüche man gelangt, wenn man solche Moral predigt.

Aber all diese Widersprüche werden bei der allgemeinen Verwirrung gar nicht wahrgenommen. Das ist das Traurige.

Und dennoch wird es dem Pastor Traub, der diese allgemeine Verirrung benützt, um sie noch zu vertiefen, nicht gelingen, die Menschheit des Mitleids zu berauben, das der einzig konstante Motor ist, der die Einrichtung des Kriegs überwinden helfen wird.