Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Thun, 19. Juni.

Auf der Reise hieher die trockenen Verwüstungen des Kriegs kennen gelernt. In Luzern die Hotels teilweise geschlossen, teilweise nur von einer kleinen Schar Gäste bewohnt. Die Luxusgeschäfte ebenfalls zum Teil geschlossen. Ein trauriger Anblick, diese Stätte des Wohllebens einsam und öde zu sehen, die Häuser, in denen sonst das Gold rollte, leer und mit Brettern vernagelt zu finden. Alle klagen über die ungeheuren wirtschaftlichen Verluste. Hier in Thun, wo die Luxushotels ebenfalls geschlossen haben, bin ich der einzige Gast in einem alten renommierten Gasthof. Der Wirt sagte mir: Den Strick habe ich schon um den Hals gelegt, ich brauche ihn nur noch zuzuziehen. So schauen die Verwüstungen in einem neutralen Lande aus. Dabei sind sich die Leute bewusst, dass eine Generation vorübergehen muss, ehe nur wieder die alten Verhältnisse eintreten werden. Die Menschen sind eigentlich nicht wert, dass ihnen diese Katastrophe erspart geblieben wäre. Sie ahnten ja gar nicht, was der Krieg bedeutet, und auf uns, die wir es erkannt hatten, hörten sie nicht.

Ob sie nachher klug sein werden, oder ob es auch nach dieser Prüfung den Charlatanen der Welt gelingen wird, die Menschheit von der Verfolgung ihrer höchsten Interessen abzuhalten? Ein Professor O. F. Schmidt in Köln, dem mein Verleger einen Prospekt meiner Schrift «Europäische Wiederherstellung» übersandt hatte, schreibt diesem: «Die aus dieser Schrift angeführten Sätze zeigten mir endgiltig, dass der Pazifismus dem klassischen Zeitalter des Kriegs, in das wir eingetreten sind, mindestens gegen den Geschmack geht. Derartige utopistische Empfindungen gilt es jetzt abzuwehren.» — Schon abwehren, ehe er das Buch gelesen. Allerdings, wenn man von einem «klassischen Zeitalter des Kriegs» spricht, braucht man Gegengründe nicht erst kennen zu lernen. Möge jenen Leuten das Erwachen aus dem Rausch, in dem sie leben, leicht werden. Es wird für sie ein fürchterlicher Tag kommen, wenn die empörte Menschheit diese Missionare der Vernichtung von sich stossen wird.

Bryans «Aufruf an das amerikanische Volk» ist ein pazifistisches Dokument von höchster Bedeutung. Darin heisst es:

«Aber es handelt sich hier in Wirklichkeit um die Wahl zwischen zwei Systemen. Unter den Einflüssen, deren sich die Regierungen bei ihren Beziehungen untereinander bedienen, nehmen zwei eine vorherrschende Stellung ein und sind einander entgegengesetzt: nämlich Gewalt und Überredung. Gewalt tritt bestimmt auf und handelt durch Ultimatum. Überredung wendet Beweisführungen an, fordert zu Untersuchungen auf und stützt sich auf Verhandlungen. Gewalt stellt das alte System dar, Überredung ein neues, das allgemeine Brüderlichkeit zum Ziele hat. Wenn ich die Note an Deutschland richtig auslege, so muss ich sagen, dass sie eher mit den Grundzügen des alten Systems, als denen des neuen übereinstimmt. Ich gebe gern zu, dass sie sich damit auf Präzedenzfälle im Überfluss stützt. Das alte System ist für alle frühern Kriege verantwortlich.»

Dieser Satz ist unsrer Lehre entnommen.

Aber die deutsche Presse, die es nicht glauben will, dass ein Staatsmann pazifistisch denkt, sucht nach dem tiefern Grund dieser ihr als «Heuchelei» erscheinenden Gesinnung und schliesst überzeugend daraus, dass es sich nur um ein Manöver für die kommende Präsidentenwahl handelt. Sie ist sich der grossen Bedeutung nicht klar, die der Pazifismus auf der andern Seite der Erdkugel bereits gewonnen hat. Selbst wenn Bryans Kundgebung wirklich nur ein Wahlmanöver wäre, spräche ja dies auch schon für die Rolle der pazifistischen Idee, die in Europa für Wahlargumente nicht verwendbar wäre.

Der Fliegerraid über Karlsruhe mit seinen 80 Opfern zeigt neuerdings anschaulich den Wahnsinn des Luftkriegs und das Verbrechen, das darin lag, das Verbot, das auf der zweiten Haager Konferenz vorgeschlagen war, nicht anzunehmen. Wenn die Fliegeruntat jetzt von der deutschen Regierung amtlich als ein «Verbrechen» bezeichnet wird, so ist das leider zu spät. Wir, wir blöden Pazifisten, haben vor der «Barbarisierung der Luft» gewarnt, wurden aber dabei verhöhnt, weil man eine so kostbare Möglichkeit der Gewaltanwendung nicht aus der Hand geben könne. Dass alle Gewaltmittel zweischneidig seien, wird man erst jetzt erkennen und vielleicht dann doch später dahin gelangen, diese Zweischneidigkeit durch gemeinsame Abkommen zu beseitigen.