Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 26. März.

Vorgestern ist der ehemalige Kaiser und König Karl von Österreich und Ungarn unter englischem Schutz in der Schweiz eingetroffen, um hier seinen dauernden Wohnsitz zu nehmen. Er hatte im November vorigen Jahres, als er den Völkern freie Hand ließ, ihre Geschicke selber zu gestalten, sich von der Regierung zurückgezogen, ohne ausdrücklich für sich und sein Haus auf den Thron zu verzichten. Seitdem lebte er auf seinem Landsitz Eckartsau in Niederösterreich. Die Republik Deutsch-Österreich kümmerte sich nicht um den Kaiser, der noch immer eine Hofhaltung hielt und sich Majestät betiteln ließ. Erst als die Wahlen die Gestaltung des deutsch-österreichischen Volksstaats gesichert erscheinen ließen, als die Nationalversammlung seine Grundlagen errichtet hatte, besann man sich, dass noch der Kaiser des alten Gesamtstaats im Land wohne, der insofern die Republik noch nicht anerkannt hatte als er nicht darauf verzichten wollte, Kaiser zu sein und zu heißen. Es soll nun in den nächsten Tagen in der Nationalversammlung ein Gesetz zur Annahme kommen, das den Kaiser und das Haus Habsburg-Lothringen des Throns verlustig erklären wird. Der frühere Kaiser scheint sich diesem Gesetz nicht unterwerfen zu wollen, er hat es darum vorgezogen, in das neutrale Ausland zu gehen, wo er seinen Protest gegen die Absetzung, ohne Weiterungen fürchten zu müssen, hofft, aufrecht erhalten zu können.

Möge er die Sicherheit der demokratischen Schweiz in Ruhe genießen. Wir, die wir einst vor dem Wahnsinn der Habsburgischen Militaristen die Zuflucht in diesem Land suchten und fanden, sind die letzten, die ihm das hier gefundene Asyl missgönnen oder ihm daraus in gleicher Weise den Vorwurf machen werden, wie die schwarz-gelbe Hebpresse ihn uns gemacht hat.

Diese Reise des ehemaligen Kaisers, des mächtigen Herrschers über ein von 56 Millionen bevölkertes Riesenreich, an die Grenze seines ehemaligen Landes ist doch ein furchtbar tragisches Ereignis, wie es ein gewaltiges geschichtliches ist. Selten hat das Schicksal mit einem Mächtigen dieser Erde so Fangball gespielt wie mit diesem vierten Karl von Habsburg-Lothringen-Este. Er stand ja seiner Geburt nach ganz abseits vom Thron. Fünf Menschen mussten sterben, zwei von ihnen auf gewaltsame Weise, drei vorzeitig, ehe er Anwärter und schließlich Inhaber dieses Throns wurde. Als er ihn mitten im Weltkrieg bestieg, schien seinem Reich noch die Sonne des Sieges, leuchtete ihm noch die Hoffnung auf einen für ihn glücklichen Ausgang des unheilvollen Kriegs. Aller Glanz der Herrscherpracht umgab ihn, und die Ungarn krönten ihn mit einem noch nie gesehenen Aufwand an Luxus und kostbarer Symbolik zu ihrem König. Zwei Jahre später war das alte Reich zerbrochen, der Thron zerbrochen, die 648 Jahre alte Herrschaft des Habsburgerstammes beendet, der junge, vom Glück emporgehobene Kaiser vom Unglück in die Tiefe gezogen. Heute sitzt er, ein Flüchtling, außerhalb seines Landes. Es ist nicht nur das persönliche Schicksal, das so tragisch wirkt, es ist auch das geschichtliche Schicksal dieser Dynastie. Es ist das Ende eines Geschlechts, das in der Geschichte des deutschen Volkes, zuletzt in jener des Völkerstaats Österreich und Ungarn, eine so große und auch eine so verhängnisvolle Rolle gespielt hat. Welche Fülle an Macht ist hier zerbrochen, zerbrochen an dem Unvermögen, die Zeichen der Zeit zu verstehen. Hätten die Habsburger und die Hohenzollern erkannt, dass man das Zeitalter der Luftomnibusse und der drahtlosen Telegraphie nicht mehr nach den Grundsätzen der Friedriche und der Napoleone regieren kann, dass die Romantik des Waffendienstes und des Gottesgnadentums in dieses Maschinenzeitalter nicht mehr hineinpasse, sie hätten ihr Schicksal anders bereitet. Aber wie sollten sie es erkennen? Sie lebten in Abgeschlossenheit und sahen die Welt nur durch karikierende Scheiben. Sie weideten sich an dem Glanz der für sie und ihren Gebrauch eigens zugeschnittenen künstlichen Welt. So musste eines Tages der Zusammenbruch kommen. Er kam so plötzlich und so enttäuschend. Denn von diesem Krieg hatten diese Herrscherfamilien Erhöhung ihrer Macht erwartet. Er brachte ihnen den Sturz. Nicht nur ihnen allein. Es scheint, diese Weltkatastrophe hat alle Throne schwankend gemacht, und der Tag erscheint mir nicht fern, wo in allen Ländern das monarchische System sein Ende finden wird. Wells sagt in seinem jüngsten Buch:

«Das europäische dynastische System, das auf einer wechselseitigen Verheiratung einer in der Hauptsache aus deutschen königlichen Familien sich bildenden Gruppe begründet war, ist heute tot. Erst neuerdings tot, aber doch so tot wie das Reich der Inkas.»

Ein Zeichen dieses Verfalls der Dynastien ist die Flucht Karls IV. nach Schloss Wartegg in der Schweiz, wo er hoffen mag und den Prätendenten spielen wird wie einst Graf Chambord auf Schloss Frohsdorf. Es steht schlimm mit diesen Hoffnungen, denn wenn selbst für die Hohenzollern noch einmal eine Episode der Restauration kommen sollte, der Habsburgerspross fände sein Reich nicht mehr. Das ist verschwunden. Und so wie Deutsch-Österreich nicht alle Kronennoten und Kriegsanleihen übernehmen kann, die das Gesamtreich hinterlassen, kann es doch auch nicht allein den Gegenstand der Restauration für den Kaiser des Gesamtreichs abgeben. Die Unterschrift auf der Kriegserklärung am 28. Juli 1914, die so sorglos gegeben sein mag, war nicht nur das Todesurteil für 17 Millionen Menschen, sondern auch das Todesurteil für die Habsburger, die Hohenzollern, die Romanows und alle andern Dynastien. Die Menschheit braucht solche Götter nicht mehr, die mit einem Namenszug solches Weltunheil anzurichten vermögen.