Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Spiez, 28. Juli.

Der vierte Jahrestag des Weltsiechtums. Vier Jahre Weltkrieg. Vier Jahre Wahnsinn. Vier Jahre Irrungen und Irrsinn. Die Wage der Hoffnung senkt sich tief. Wir haben nichts mehr zu hoffen. Das schlimmste ist, dass selbst das Ende, wenn es bald käme, uns fast gleichgültig ist. Auch das Ende kann uns nichts mehr bringen. Uns nicht mehr, die wir das Unglück haben, an dieser traurigen Zeitenwende auf Erden zu wandeln. Uns bleibt höchstens die Erinnerung an eine bessere Zeit, die wir gesehen, der Gedanke an eine bessere Zeit, die sich aus unsern Leibern aufbauen wird. Der Augenblick, wo Rettung möglich gewesen wäre, ist versäumt worden. Die Verbrecher, die den Einbruch in den Menschheitsbesitz des Friedens unternommen, krönten ihr Werk durch Phantastentum des Siegs. So zerrten sie die Völker in den Abgrund, in dem sie sich schon befinden. Nach zwei

Jahren, vielleicht auch noch nach drei Jahren, wäre eine Rettung noch möglich gewesen. Heute ist es gleichgültig, ob der Zustand noch ein, noch zwei, noch zehn Jahre dauert. Friede, was man als Frieden anzusehen gewohnt war, kommt nicht mehr. Auch nach der Kriegsbeendigung wird der Krieg weitergehen. Nur in andrer Form; kaum in milderer.

Was wollen sie noch, die deutschen Macht-Idioten, die Gewalt-Helden, die Siegs-lrrsinnigen? Sie treiben Spielerpolitik. Sie häufen zu dem Verlust des Besitzes den Verlust des Erborgten. Die Hauptsache ist ihnen nur nicht aufhören. Nur weiter im Rausch bleiben, nicht den letzten Hoffnungsschimmer verlöschen und nicht die Ernüchterung eintreten lassen. Spielerpolitik. Verzweifelte, die sich und den andern Zukunft vorgaukeln, und doch den Hahn desRevolvers bereits gespannt haben, um sich ins Nichts zu verflüchtigen.

Schon mehren sich die Stimmen trauriger Erkenntnis in Deutschland. Friedrich Naumann schrieb neulich (in dem Sammelwerk «Neue Heimat») von der Zukunft:

«Immer wird nur das Nötige da sein, denn das Nötige selber hängt nur von den Gewohnheiten ab, mit denen wir alle nach dem Krieg beginnen. Alle jungen Leute müssen von vornherein wissen, dass sie wieder da anfangen, wo schon einmal ihre Eltern und Großeltern standen, bei viel größerer Knappheit und Einfachheit. Der Krieg hat uns, auch wenn er siegreich endet, zunächst um Jahrzehnte zurückgeworfen. Das wollen wir ruhig anerkennen und daraus unsre Forderungen ziehen.»

Und Walter Rathenau in einem Aufsatz im «Berl. Tageblatt» («Kriegsgewinner», 21. Juli):

«Niemand erweckt die Toten, heilt die Verstümmelten, verjüngt die Ergrauten, sänftigt die Fluren, entfacht die Zeugungskraft der Männer. Gealterte

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kehren heim in zerrüttete Länder. Manche finden ihren Beruf nicht wieder, ihre Stellen besetzt, manche kein Obdach. Manchem ist Lehre und Studium abgeschnitten, manchem der Hausstand verloren, manchem Erwerb und Geschäft erstorben. Allen ist die Nahrung gekürzt, allen das Geld entwertet, der Unterhalt verteuert, die Steuerlast aufgehalst. Der Begriff des Vermögens ist halb verflüchtigt, ein mittlerer Besitzt, der sorglos machte, bedeutet nichts mehr, Intelligenzen sind proletarisiert, nur das Arbeitseinkommen gilt. Der Geist des Landes ist einseitig geworden und verflacht. Die Arbeitskraft gemindert, der sittliche Stand gesunken. Neue Vergehen sind entstanden, alte zum Gemeinübel geworden, die Scheu vor der Übertretung ist gebrochen, das Gesetz schlecht und das Recht kraftlos.»

Das darf man heute schon schreiben in Deutschland. Noch sieht man es gern. Weil es die Steueraktion rechtfertigt. Aber wenn man eines Tages die Frage «Warum?» wird hinzufügen wollen, «warum das alles?», dann wird man die Äußerung solcher Erkenntnis als gefährlich verbieten. Das wird aber nichts nützen. Die Schicksalsfrage drängt sich auf und wird Antwort heischen. Das Märchen vom bösen Nachbar wird nicht mehr verfangen. Säuglinge und marastische Greise werden sich vielleicht damit einlullen lassen. Die übrige Menschheit nicht. Sie wird ihr «Warum?» donnern! Und sie wird sich selber Antwort geben.

Weit überlebte, geblendete und verblendete Kasten und ihre Einrichtungen, die das veränderte Wesen der Zeit nicht begriffen, ihrer Verantwortung nicht bewusst leichtfertig und sorglos mit der Menschheitsgeschichte spielten und daran herumstümperten, weil unreife, wertlose Personen, die ohne Ernst und Lebensinhalt, an Intelligenz verkümmert, an Wissen arm, Macht in Händen

hatten und überlebten Anschauungen und Ideen dienten, Phrasen für Realitäten hielten und Realität für Phrase, weil Menschen, die, eigentlich schon lange tot, als Gespenster in einer realen Welt herumirrten und sich den Glauben an sich und ihre Lebenserscheinung zu erringen wussten, darum, darum, ihr Armen, ihr Gebrochenen, ihr Gemordeten, ihr Betrogenen, ist Blut verdorrt, ist Glück zerbrochen, ist Reichtum verschwunden, ist Aufstieg zum Abstieg geworden. Darum! Darum! Darum! Schreit es hinaus in die finstere Zeit, schreit es, dass die künftig Lebenden es noch hören, noch lange in die Jahrhunderte hören, dass Verbrecher die Welt, die Menschheit, dich, Deutschland, dich, deutsches Volk gemordet haben!

Das «Warum?» und das «Darum» wird die Welt nicht mehr los.

Wenn die Frage erst gestellt wird, ist sie auch bereits beantwortet. Wenn sie aber beantwortet ist, dann gibt es nie mehr Krieg, nie mehr! Dann gibt es nie mehr Taschenspielerherrschaft in der Welt, niemals Triumph der Gaukler, der Betrüger, der Scharlatane, der Parasiten. Dann gibt es nie mehr irregeführte Massen, sondern nur erleuchtete und organisierte Menschheitsvereinigungen , die nicht mehr betört werden können, die ihren Willen aufdrängen, und die ihr Geschick selbst bestimmen werden.

Das Verbrechen des Sommers 1914 kann nie mehr, nie mehr in Jahrtausenden wiederkehren. Die Genarrten haben gelernt, werden lernen, werden klug sein!

Vier Jahre! Und wir schreiten ins fünfte! Hoch ist der Morast der Lüge und des Blutes, durch den wir waten. Nie mehr gibt’s Freude für dieses Geschlecht. Nie mehr Sonne im Herzen. Die Toten werden unsre Mähler umtanzen und unsre Träume erfüllen. Diese Millionen Gescheiter werden leben als die unsichtbaren Furien

unseres Seins. Sie werden leben um ihren Fluch», den sie nicht mehr sprechen können, lebendig zu machen in ihrem Handeln. Die Pflicht der im Leid tiberlebenden den Ermordeten gegenüber ist, ihren Fluch lebendig zu erhalten. So lange lebendig, bis sie alle gerächt, bis ihre Lebensopfer bezahlt sind. Nur in Härte, nur mit der Gewalt des Hasses gegen jene, die das Unheil hervorgerufen haben, können wir die künftigen Generationen wieder zum Frieden gleiten lassen, können die Überbleibsel der Lebenden sich noch in Liebe finden. Wir brauchen Hass, um wieder lieben zu können. Hass und Fluch gegen die, die die Welt zum Sterben gebracht!

Ein Flucti ihnen allen, an diesem Jahrestag, den Generationen nach uns als den Sterbetag eines Zeitalters mit Trauerfeiern begehen werden. Fluch ihnen!

Mit dem «Gesang der Geister» aus Faust 1, der so wundervoll die gegenwärtige Weltlage schildert, will ich die Eintragungen dieses vierten Unheiljahrs schließen:

«Weh! Weh!

Du hast sie zerstört,

Die schöne Welt,

Mit mächtiger Faust;

Sie stürzt, sie zerfällt!

Ein Halbgott hat sie zerschlagen. Wir tragen

Die Trümmern ins Nichts hinüber Und klagen

Über die verlorne Schöne.»