Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 15. Mai.

Die Hoffnungen auf die heute zu erwartenden Erklärungen des Reichskanzlers schwinden. Dass er sich von den Annexionisten entschieden loslösen wird, erscheint ausgeschlossen. Dies verrät eine Wiener Depesche über die in Wien gepflogenen Besprechungen des Reichskanzlers mit dem Grafen Czernin und dem Kaiser. Darin wird mitgeteilt, dass beide Regierungen «solidarisch» sind, dass diese Solidarität «in der Form und dem Inhalt der Erklärungen Bethmann-Hollwegs zum Ausdruck kommen» wird. Und bedeutungsvoll wird hinzugefügt:

«Die volle Übereinstimmung in diesen wichtigen Fragen lässt alle Spekulationen des Auslands auf Differenzen zwischen den beiden Verbündeten als aussichtslos erscheinen.»

Das sagt deutlich genug, dass der Kanzler den Verzicht auf Annexionen nicht aussprechen wird. Noch mehr verdeutlicht das ein telegraphisch gemeldeter Aufsatz in der offiziösen «Reichspost», die die jüngsten Erklärungen des Grafen Czernin über einen Frieden ohne Annexionen dahin ergänzt, dass sich dies nur auf Russland beziehe, «den Italienern, Serben und Rumänen einen Freibrief auszustellen und den Völkern Österreich-Ungarns zu verkünden, dass sie die ungeheuren Kosten des ihnen aufgezwungenen Kriegs selber bezahlen müssen, dazu läge weder eine Veranlassung noch auch die geringste Neigung vor.» Weder Veranlassung noch Neigung! Folgt eine Absage an die sozialdemokratischen Friedensbestrebungen. — Also, wozu noch auf die Rede des Reichskanzlers warten. Wir wissen schon, was er sagen wird.