Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

22. September 1914.

Heute würden wir in Budapest den XXI Weltfriedenskongress beschliessen. Vorbei! Nun ist es Herbst geworden. Kalter Regenschauer, graue, hängende Wolken, die die Berge verhüllen. Dieses Wetter passt besser zur Stimmung als das endlos schöne Wetter, das zu Beginn des Kriegs herrschte. Aber das Leid um die im Felde Liegenden wird grösser. Man schämt sich, ein Dach zu haben.

Der gestrige Bericht vom westlichen Kriegsschauplatz bringt zwei Meldungen, die nicht gerade erfreulich klingen. Die Stellung der französischen Front läge so vor Reims, dass die deutschen Kanonen die Stadt bestreichen müssen. Dies zeigt, dass die Linien der Deutschen, die bis an Paris heranrührten, bis hinter Reims zurückgezogen worden sind. Die andere Mitteilung besagt, dass sich die Truppen im Elsass hart an der Grenze gegenüberstehen. Also hier ist man in den sieben Wochen des Krieges noch nicht weit vorgerückt.

Vom serbischen Kriegsschauplatz wird gemeldet, dass die österreichisch-ungarischen Truppen vor Kragujevatz stehen. Andererseits ist Sarajewo evakuiert worden. Vom nördlichen Kriegsschauplatz nichts.

Der Vermittlungsvorschlag Wilsons ist von deutscher Seite abgelehnt worden. Die «Norddeutsche Allgemeine Zeitung» schreibt: «Deutschland denkt im gegenwärtigen Augenblick gar nicht daran, irgendwelche Friedensangebote zu machen . . . Deutschland verfolgt nur das eine Ziel, den ruchlos heraufbeschworenen Krieg ehrenvoll bis zum Ende durchzufechten.»

Bis zum Ende! — Schliesslich ist ja das Ende immer dort, wo man aufhört, Krieg zu führen. Gemeint ist es aber anders. Gemeint ist es bis zur Niederringung aller Gegner. Das ist nicht nur ein schwieriges Stück Arbeit, sondern auch ein langwieriges. Und wenn man bedenkt, dass alle Staaten dieses selbe Ziel verfolgen, kann man sich vorstellen, welches Mass von Erbitterung, welcher Gewaltaufwand noch an den Tag gelegt werden muss, um einen Teil der Kämpfenden für den Frieden bereit zu machen, für den Frieden, den der in diesem unerhörten Kampf siegreiche Teil zu diktieren für gut befinden wird.

Die deutsche Kriegsanleihe, von der 2 Milliarden ausgeschrieben wurden, wurde mit 4 1/2 Milliarden gezeichnet. Das ist ein grosser Erfolg, ein schlagender Beweis der Wirtschaftskraft Deutschlands und der Zuversicht des deutschen Volkes. — Aber nun möchten wir nur einmal eine Kulturmilliarde sehen, die nicht für Rüstungen und Krieg sondern ausschliesslich für soziale Wohlfahrt, Wissenschaft und Völkerverständigung ausgegeben werden sollte. Wann kommt sie, und wann findet dieser Zweck solche Opferwilligkeit?

Seltsam ist der Stil und der Ton der Kriegsliteratur. Sie hat so etwas Mystisches, Feierliches an sich, so etwas Weltabgewandtes, das einem bei vorheriger Überlegung unfasslich erscheint. Ein Beispiel aus einer, unter dem Titel «Der Krieg» als Broschüre erschienenen Rede von Ernst Horneffer, die dieser bei der vaterländischen Feier des Kartells freiheitlicher Vereine gehalten hat. Man höre: «An einer schweren Krankheit war unser Volk krank, ein quälendes Siechtum drückte die Seelen nieder: dass wir verbannt waren von aller Grösse (!) Wie eine ferne Sage klang das Lied vergangener Grosstaaten zu uns herüber. Nun ist er da der grosse Tag, die grosse Tat erschien. Wider alles Erwarten, urplötzlich hat sie uns ergriffen, sich auf uns niedergesenkt. Wir erfahren die Schauer dieses Erlebnisses, das wir niemals erträumten. Denn anders als unsere Bilder das grosse Erlebnis uns hinmalten, ist es uns erschienen. Es trägt eherne Züge, es tritt mit dem Schritt des Todes daher, und grollende Donnerstimmen begleiten seinen erhabenen Glanz. Der Krieg kam, der grosse Krieg».

In diesem Ton ist die ganze Rede geschrieben. Welche Grimasse, welcher Hokuspokus der Sprache, der Gedanken. Ja, um des Himmels willen, welch «grosse Tat» hat sich ereignet, welch «grosser Tag» ist erschienen? — Ein Unglück ist passiert, ein Riesenunglück! Ein Unglück, das so entsetzlich gross ist, dass keine Regierung die Verantwortung übernehmen will, und eine jede bestrebt ist, sie der andern zuzuschieben. Ein Unglück, das so rasch über uns hereinbrach, dass mit Recht gesagt werden kann, keine Regierung, kein Volk wollte es eigentlich.

Das ist die Grösse, die uns in zerfetzten Menschenleibern begegnet, in der Vernichtung, im Hass?

Das Verlaustsein ist nur das geringste dieser Tat, die es als etwas Heiliges erscheinen lässt, kalten Bluts geschärfte Eisenmesser in lebenswarme Leiber zu stossen, die den zum Helden macht, der fünf solcher Leiber hintereinander durchstösst. Sagt uns nicht, er erschlug den «Feind». Das ist Verschleierung! Er stach in die Brust einem Agenten für Milchvertrieb, einem Bureauangestellten einer Bank, einem Schreibmaschinenmechaniker, einem Geographieprofessor und einem Reklamezettelverteiler. Seht Euch den Feind so an, von der bürgerlichen Perspektive und nicht von der umnebelten des patriotischen Militarismus, dann seht Ihr die Dinge klarer. Ja, Euer «Feind» ist kein imaginäres, bösartiges Phantom, sondern ein Gebilde aus Arbeitsmenschen, die neben der Stellung «Feind» noch einen andern Beruf haben. Genau so wie Ihr selbst! — Wie Ihr selbst, sind sie Söhne, die Hoffnungen erweckten — Stich! — Väter, die Kinder daheim haben — Stich! — Gatten, die junge aufopfernde Frauen zurückliessen — Stich! — Freunde — Brüder — Stich! Stich! —

«Schauer des Erlebnisses» — «grosses Erlebnis, das wir niemals träumten» — «die Grösse,» — und «wir waren verbannt von aller Grösse». — Welche Perversität des Denkens und Fühlens, welcher mystische Wahnsinn! Nur aus dieser Psyche heraus ist es zu erklären, dass die Menschen den Krieg ertragen können. Die Maske des Mystischen, der Kunst, der Religion, der grossen Seelenfeier ist nötig, um all die Verlaustheit und Fäulnis zu verdecken.