Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

6. März (Zürich) 1915.

Die allgemeine Lage hat an Spannung zugenommen, leider in einer Weise, die die Aussicht auf den Friedensschluss in weite Ferne rückt. Die Kämpfe in Galizien versteifen sich, die Dardanellenfrage erzeugt grosse Erregung, die Haltung Italiens wird immer fraglicher. Es kann sich eine verwickelte Situation ergeben, dass sich eine Entwicklung schwer absehen lässt. Der Krieg kann fürchterliche Folgen haben.

In der deutschen Presse mehren sich die Stimmen für eine Abtretung des Trentino an Italien. Das finde ich unerhört. Wenn man in Deutschland glaubt, dass man dem Frieden mit Italien einige Quadratkilometer zum Opfer bringen dürfe, — ein an sich ganz vernünftiger Gedanke — so muss es doch erlaubt sein, die Frage aufzuwerfen, warum man dann nicht die gleichen Gründe für die Abtretung Elsass-Lothringens oder nur eines Teiles davon ins Auge gefasst hat. Dadurch hätte der Weltkrieg vermieden werden können. Ja, sogar mit noch viel weniger. Es hätte gar nicht der Abtretung bedurft; Autonomieerteilung hätte genügt. Wer aber solches in Deutschland empfohlen hat, wurde gesteinigt. Und nun empfiehlt Heinrich Rippler in der «Tägl. Rundschau» (5. März) der österreichisch-ungarischen Regierung, Italiens 1 1/2 Millionen Soldaten durch Abtretung des Trentino den Verbündeten vom Leibe zu halten. Die «Tägl. Rundschau» ist ein nationales Blatt, dem nicht nur das Reichsgebiet als unantastbar gilt, das vielmehr der Ansicht ist, dass auch andre, nicht zu Deutschland gehörige Gebiete dem Reich einverleibt werden müssen. Für den Besitz des Habsburgerstaates scheint dieses Blatt nicht die gleiche Empfindung zu hegen. Wer weiss, welchen Eindruck diese Haltung der deutschen Presse, die jetzt ohne Zustimmung der Regierung nichts äussern darf, in Österreich-Ungarn machen wird? Ob es nicht den Anschein erwecken könnte, als sollte Österreich-Ungarn die Zeche bezahlen?

Welche Folgen wird dieser Krieg noch haben, der im letzten Grunde doch nur deshalb geführt wurde, weil Österreich-Ungarn sich nicht dazu verstehen wollte, seine Forderungen an Serbien in eine mildere Form zu kleiden. (Das war die letzte Formel Grey-Sasonow.) Es wird immer deutlicher, dass dieser Krieg, trotz seiner Wirklichkeit, doch eine Utopie ist.

Österreich-Ungarn hat gestern den nichtgedienten Landsturm von 37 bis 42 Jahren zur Musterung einberufen. In Deutschland wurde die Brotration von 225 auf 200 Gramm pro Tag und Kopf herabgesetzt. Wohl alles aus Vorsichtsmassnahme; aber dass man die Vorsicht so weit treiben muss, ist schon an sich bedauerlich.

Der frühere ungarische Ministerpräsident Dr. Alexander Weckerle hat kürzlich in Budapest einen Vortrag über «die wirtschaftlichen Folgen des Kriegs» gehalten, der an Pessimismus nicht übertroffen werden kann. Er spricht von den grossen Schäden, die das Nationaleinkommen bis jetzt erlitten hat, von den grossen Ausgaben, die dem Staat durch den erhöhten Pensionsbedarf und für die Materialerneuerung erwachsen und den ungeheuren Kosten der eigentlichen Kriegführung, die er für Deutschland (ohne Österreich-Ungarn) und den Entente-Mächten für neun Monate mit 37 Milliarden beziffert, und kommt zu dem Schluss, dass bei der allgemein zu erwartenden Erschöpfung an eine Kriegsentschädigung nicht zu denken ist. Wir müssen darauf vorbereitet sein, «dass wir selbst die Lasten des Kriegs tragen müssen».

Viel Lärm um nichts also. Der Traum von dem nach dem Krieg hereinströmenden Milliardensegen, jene gefährliche, durch den deutsch-französischen Krieg in naiven Köpfen erzeugte Fata Morgana, die zu Beginn der Weltkatastrophe die Stimmung der Bevölkerung erhöhte, scheint also ausgeträumt zu sein.

Der Pazifist, der dies alles so kommen sah, kann sich nicht enthalten, die Frage des «Wozu?» immer wieder zu stellen und sich die so oft zitierten von Kant bekannt gemachten Worte David Humes in Erinnerung zu bringen: «Wenn ich jetzt die Nationen im Krieg gegeneinander begriffen sehe, so ist es, als ob ich zwei besoffene Kerle sähe, die sich in einem Porzellanladen mit Prügeln herumschlagen. Denn nicht genug, dass sie an den Beulen, die sie sich wechselseitig geben, lange zu heilen haben, so müssen sie hinterher noch allen den Schaden bezahlen, den sie anrichten». Und ein anderes, von uns so oft zitiertes Wort fällt mir ein. Ich glaube, es ist von Girardin: «Mit der Hälfte der Kosten, die die Völker im Krieg ausgeben, wäre das gesamte Elend aus der Welt zu schaffen». Man kann, den veränderten Umständen seit der Zeit, in der jener Ausspruch getan, Rechnung tragend, hinzufügen: Mit einem Zehntel der Summe!

In einer Schrift «Die Ursachen und Ziele des europäischen Krieges» (Berlin, Puttkammer & Mühlbrecht) bespricht Professor Albert Osterrieth die Zukunftsmöglichkeiten. Er vertritt die von uns Pazifisten so oft geäusserte Anschauung, dass ein europäischer Krieg Europas kulturelle Vorherrschaft vernichten müsse, wenn er nicht die Grundlagen eines dauernden Friedens nach sich zöge. Ich habe immer darauf hingewiesen, dass ein europäischer Krieg Europa den Staaten Amerikas gegenüber eine solche Stellung einräumen muss, wie sie bis 1912 die Balkanstaaten Europa gegenüber einnahmen.

Osterrieth ist der vernünftigen Ansicht, dass ein blosser Friedensschluss nur wieder eine Revanchepolitik zeitigen müsse, also eine auf Krieg beruhende Politik, die den kulturellen Untergang unseres Erdteils besiegeln muss, wenn er durch den gegenwärtigen Krieg noch nicht vollendet wird. Das Einzige, was Europa die Rettung bringen könnte, wäre nach ihm ein Bündnis Deutschlands und Österreich-Ungarns mit England und Frankreich. Ja, das haben wir ja immer gepredigt und gefordert. Dazu hätte man wirklich nicht nötig gehabt, es erst zum Weltkrieg kommen zu lassen.

Das drolligste ist aber, dass Osterrieth sich bemüssigt sieht, darauf hinzuweisen, dass «der Gedanke einer europäischen Gemeinschaft (den er gefunden zu haben glaubt) mit den Friedensbestrebungen — zu Unrecht! — auf eine Stufe gestellt worden» ist. — Der Gedanke des allgemeinen Friedens ist nicht zu verwirklichen, meint er, (als ob die «Friedensbestrebungen» allgemeinen oder ewigen Frieden herbeiführen wollten!) während sich der Gedanke eines europäischen Bundes «aus der kühlen, realpolitischen Betrachtung der bisherigen geschichtlichen Entwicklung und der Forderungen der Gegenwart ergibt.» — Es ist wirklich heilige Einfalt, die nicht weiss, dass diese «kühlen realpolitischen Betrachtungen» vom Pazifismus seit Jahrzehnten angestellt wurden, und dass von ihm auf jene «Forderungen der Gegenwart» nachdrücklichst hingewiesen wurde. Hätte man sich mehr mit der Arbeit des Pazifismus vertraut gemacht, so wäre der Jammer des Weltkriegs vermieden worden. Es liegt eine ungeheure Tragik darin, dass erst durch das furchtbare Blutbad unsere Lehren zu dämmern beginnen, und eine noch grössere, dass jene, denen sie aufdämmern, glauben, hinweisen zu müssen, dass ihre verspäteten Einfälle nicht «mit den Friedensbestrebungen auf eine Stufe gestellt» werden dürfen.

Im übrigen ist Osterrieth nicht der einzige, der für ein Bündnis Deutschlands mit England plädiert. Der Verlagsdirektor des Scherl’schen Verlages, in dem der offizielle «Lokal-Anzeiger» erscheint, Dr. Zimmermann, konnte vor einigen Tagen — von der Zensur unbeanstandet — diesen Gedanken vertreten, der nicht nur kein schlechter zu sein scheint, sondern den wirklich vernünftigen Ausweg weist. Sicherlich ist es bedauerlich, wenn dieser Ausweg, der so offen zu Tage lag, erst durch den Krieg gefunden werden musste. Aber wenn die Psyche unserer zeitgenössischen Diplomatie nicht reif genug war, um diesen offenliegenden Ausweg zu finden, wenn gewisse Imponderabilien der Ehrbegriffe in beiden Ländern, ein Übereinkommen erst dann zulässig erscheinen lassen, wenn man durch Blut seine Ehre gerettet wähnt, dann wäre dieser Krieg, so furchtbar er auch ist, nicht umsonst geführt.

Die Ideen einer Hegemonie in Europa sind bereits verflogen. Es bleibt nichts anderes übrig — wenn es nicht wirklich zu einer jahrzehntelangen Periode weiterer Kriege kommen soll — als eine europäische Harmonie zu begründen, und diese ist nur bewirkbar durch einen Zusammenschluss der Zentralmächte mit den Westmächten dieses Erdteils. Dieser Zusammenschluss brächte den dauernden Frieden, die Weltorganisation.