Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

26. März (Lugano) 1915.

Die Rede Greys hat von deutscher Seite eine offizielle Zurückweisung erhalten. Hier ist sie:

«Berlin, 24. März Sp. (Wolff). Zu der Londoner Rede Greys über den Ursprung des Kriegs bemerkt das Wolff- Bureau: «Sir Edward Grey verschweigt, dass es sich während der Balkankrisis um eine Konferenz handelte, die bezweckte, die Interessen der verschiedenen Grossmächte an der endgültigen Regelung der Verhältnisse auf dem Balkan auszugleichen. Der Streitfall zwischen Österreich-Ungarn und Serbien betraf nur zwei bestimmte Staaten. Die Entscheidung dieses Streitfalles einer Konferenz von Mächten zu übertragen, die in keiner Weise daran beteiligt waren, wäre mit der Würde einer Grossmacht unvereinbar gewesen und hätte lediglich Russland Zeit gegeben, durch die Mobilisierung einer ungeheuren Armee die Freiheit der Entschliessungen der Konferenz illusorisch zu machen. Welche Macht sich auf jede Weise auf den Krieg vorbereitet hat, ergeben die von der englischen Regierung stets geleugneten geheimen militärischen Abmachungen Englands mit Russland, Frankreich und Belgien. Dass nicht die Rücksicht auf Belgien, dessen Unabhängigkeit und Integrität durch die bekannten Erklärungen Deutschlands gesichert waren, Englands Beteiligung am Krieg bedingte, gab selbst die «Times» unlängst in einem plötzlichen Anfall von Wahrheitsliebe zu. Welches Land die Freiheit der kleinen Völker tatsächlich bedroht, zeigt die ganze Geschichte des englischen Kolonialrechts sowie der Gebrauch, den England von dem Gewaltmittel seiner Flotte im gegenwärtigen Krieg macht».

Diese Zurückweisung ist von ungeheurer Dürftigkeit. Wer sich im Recht fühlt, spricht nicht so armselig. Setzt sich nicht so leichtfertig über sehr verwickelte und sehr ernste Dinge hinweg. Der offizielle Berichtigungsapparat Deutschlands leidet offensichtlich an der durch den Krieg bedingten Ausschaltung der öffentlichen Meinung. Es sieht so aus, als ob man im Bewusstsein, vor jeder Kritik sicher zu sein, sich keine Mühe zu geben braucht.

Das Einzige, was in dieser Zurückweisung wirklich ernst zu nehmen ist, ist der Hinweis darauf, dass die Konferenz Russland Zeit zu seiner Mobilisierung gegeben hätte! Alles andre ist unhaltbar!

«Der Streitfall zwischen Österreich - Ungarn und Serbien betraf nur zwei bestimmte Staaten». Dies wagt man jetzt noch zu behaupten, wo infolge dieses Streitfalles zehn Staaten im Krieg gegeneinander stehen und der Eintritt noch weiterer zu erwarten ist?

«Die Entscheidung dieses Streitfalles einer Konferenz von Mächten zu übertragen, die in keiner Weise daran beteiligt waren, wäre mit der Würde einer Grossmacht unvereinbar gewesen».

Ein unglücklicherer Einwand gegenüber den modernen Mitteln des zwischenstaatlichen Ausgleichs ist mir nicht bekannt geworden. Der Geist des Haager Werkes, an dem auch Deutschland mitgearbeitet hat, wird damit verhöhnt. Die von der Haager Konferenz empfohlenen allgemeinen Grundsätze zur Erhaltung des Friedens, die so oft schon erprobten Instrumente der Vermittlung und der guten Dienste werden mit hochmütiger Gebärde beiseite geschoben.

Dabei handelt es sich bei der von Grey vorgeschlagenen Konferenz der Gesandten Deutschlands, Italiens, Frankreichs und Englands keineswegs um einen «Areopag», der «entscheiden» sollte, sondern um ein Vermittlungswerk.10) Nicht einmal in dem Sinn, um lediglich in der serbisch-österreichischen Angelegenheit zu vermitteln, sondern darum, um zu verhindern, dass dieser Konflikt zu einem europäischen ausarte. Es ist auch nicht wahr, dass die zu dieser Vermittlung einzuladenden Mächte «in keiner Weise» an dem Streit «beteiligt waren». Wie sehr sie daran beteiligt waren, zeigt der Weltkrieg. Aber auch früher musste man wissen, dass die in Betracht gezogenen Staaten durch ihr Bundesverhältnis an dem österreichisch-serbischen Konflikt sehr stark interessiert waren. Und man wusste es auch. Aber auch deshalb konnte die Londoner Konferenz nicht als ein «Areopag» angesehen werden, der zu «entscheiden» hätte, da es ja die Bundesgenossen der beiden im Gegensatz befindlichen Staaten, Russland und Österreich-Ungarn, waren, die hier bloss einen «Ausweg suchen» sollten. Der Vorschlag hätte fast unter Berufung auf Artikel 8 des Haager Friedensabkommens erfolgen können. Was nun die «Würde der Grossmacht» anbelangt, mit der es angeblich nicht vereinbar gewesen sein soll, sich einem Ausgleich zu fügen, der einer Million Menschen das Leben und der europäischen Wirtschaft 200 Milliarden Mark hätte ersparen können, so muss ich gestehen, dass mich dieser Einwand anmutet, wie aus einer Ritterburg des Mittelalters entstammend. «Unvereinbar?» — Und das, was wir seit acht Monaten erleben, der Blutgeruch und die vernichtete Welt sind mit der Würde der Grossmacht vereinbar?

Und haben es nicht schon Grossmächte mit ihrer Würde vereinbar gehalten, viel schwerere Fälle als es der österreichisch-serbische war, einem internationalen «Areopag» zu unterwerfen? So die Vereinigten Staaten und England in der Alabama- und in der Neufundlandfischereifrage, Deutschland im Karolinenstreit und bei dem höchst bedenklichen Casablanca-Zwischenfall, England und Russland bei der schweren Huller-Affaire, und in vielen andern Fällen?

Ich will auf den zweiten Teil dieser bedauerlichen Zurückweisung nicht näher eingehen. Der Vorwurf, auf den Krieg vorbereitet gewesen zu sein, klingt etwas seltsam von Seiten eines Volkes, das stolz darauf ist, die Vorbereitung niemals und in keiner Weise vernachlässigt zu haben. Noch seltsamer ist die plötzliche Anrufung der «Times» als Eideshelferin. Ich hätte gewünscht, die Reichsregierung hätte dem deutschen Volk jene Rede Greys lieber verschwiegen als sie so ungeschickt erwidern zu lassen.

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«Welche Massnahmen zu ergreifen wären, um Verwick¬
lungen vorzubeugen» Blaubuch Nr. 36.