Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Zürich, 10. März.

Das Buch Emil Waxweilers «Hat Belgien sein Schicksal verschuldet?» ist eine völlig leidenschaftslos geschriebene Rechtfertigungsschrift gegenüber den von deutscher Seite erhobenen Anschuldigungen. Es wird später noch viel darüber und über das Verhältnis Deutschlands zu Belgien zu sprechen sein. Man kann nie zugeben, dass Deutschland hier im Recht war. Aber dass es sich über das Recht hinweggesetzt hat, ist noch nicht das Schlimmste. Die Darstellungen der offiziellen Presse, die nachträglich ein Recht Deutschlands konstruieren wollte, erfüllen den Freund des deutschen Volkes mit grosser Betrübnis. Die Einschätzung, die ich hier im November 9) den von der «Norddeutschen Allgemeinen Zeitung» veröffentlichten Dokumenten gegeben habe, lässt Waxweiler diesen ebenfalls zuteil werden. Nur mit noch grösserer Beweiskraft. Die Weglassung des entscheidenden Satzes «die Erwägungen gelten für den Fall einer Verletzung der belgischen Neutralität durch Deutschland» in der Übersetzung des durch die «Nordd. Allg. Zeitung» veröffentlichten Faksimiles ist haarsträubend. Noch ärger die Übersetzung des Wortes «conversation» (Besprechung) durch «Abkommen» (convention). Das ist kein würdiges Verfahren.

In einem Artikel Umfrids in der Lausanner «Menschheit» (Nr. 24), «Pazifismus und Expansionismus» betitelt, spricht er über den Völkerhass. Er sagt:

«Man will uns glauben machen, es sei der Rassenhass, der dazu geführt habe, dass die Völker wie Raubtiere an einander hinauffahren; in Wirklichkeit sind Sympathien und Antipathien der Völker so wenig massgebend für die Staatenlenker, dass dieselben in der Regel gar keine Notiz davon nehmen. Das was man Völkerhass nennt, ist in Friedenszeiten ein so verdünntes Gift, dass es so wenig schadet, wie das in Thee, Kaffee und Zigarren enthaltene Gift, vorausgesetzt, dass es mässig genossen wird. Aber freilich in Kriegszeiten wird der verderbliche Bazillus in kondensierter Form den Völkerseelen eingeimpft, dass er notwendig ein gefährliches Fieber erzeugen muss. Ich kann das, was ich sagen will, durch Beispiele belegen. Vor mehr als hundert Jahren sind Tausende von Schwaben nach Russland ausgewandert; sie haben sich dort angesiedelt und sich unter Russen heimisch gefühlt; nun werden die Schwaben gelehrt, die Russen als Barbaren anzusehen. Millionen von Deutschen sind nach Amerika hinübergezogen und haben sich dort mit den Angelsachsen zu einem neuen Volksstamm amalgamiert, und nun werden die Deutschen gelehrt, dass die Angelsachsen ein heuchlerisches und grundverdorbenes Krämervolk seien. Französische Hugenotten haben in Deutschland eine zweite Heimat gefunden und haben u. a. die Urbevölkerung Berlins verstärkt. Nun wird den Franzosen gesagt, das die Deutschen brutale Gewaltmenschen oder entnervte Sklaven seien, und die Volksseelen öffnen sich widerstandslos dem Gift, das ihnen eingespritzt wird, und die Nationen halten sich für verpflichtet, einander mit Aufbietung der letzten Kraft zu hassen».

Das ist alles vollkommen wahr und richtig. Der Völkerhass wird künstlich erregt, je nach Bedarf. Ärger als sich z. B. die verschiedenen Völker der österreichisch-ungarischen Monarchie gegenseitig hassen, können sich die Nationen Europas auch nicht hassend gegenüberstehen. Und doch gelingt es der Regierung der Monarchie, sich über diese Gegensätze ohne jedes Bedenken hinwegzusetzen, ja noch mehr; nicht nur über den Hass, sondern auch über die Sympathien einzelner Bevölkerungsteile für ausserhalb des Reiches befindliche Völkerschaften. Mit einer überwiegend slawischen Bevölkerung vermochten die Staatsmänner Österreich-Ungarns einen Krieg gegen den Panslavismus zu führen! Die Volksstimmungen haben daher gar keine Bedeutung für den Ausbruch von Kriegen. Nur in ihrer Anfachung und Ausnützung liegt die Gefahr. Es bestand z. B. niemals eine sehr grosse Sympathie der Reichsdeutschen gegen die Bewohner von Österreich-Ungarn. Diese wurden von jenen immer als inferior angesehen und behandelt. Auf einmal wetteifert man im Reich mit Sympathiebezeugungen und Beweisen «traditioneller Freundschaft. Wie man es gerade braucht. Morgen kann man — wenn man will — das Gegenteil bewirken. Auf einmal sind die Magyaren den Reichsdeutschen die grosse, edle, ihrer zivilisatorischen Aufgaben bewusste Nation, während man sie früher dort als Halbwilde behandelte, etwa so wie heute die Serben. Es ist noch nicht vergessen, wie die Alldeutschen sich über die Magyarisierungsbestrebungen ereiferten und durchaus statt «Budapest» immer «Ofenpest» schrieben, wie sie die Politiker der Siebenbürger Deutschen aufstachelten und unterstützten gegen jene Nation, die man jetzt verehrt und verherrlicht. Wenn man über den Völkerhass nachdenkt, erkennt man, dass er niemals ein treibendes Motiv ist, sondern immer künstliche Mache zur Förderung gewollter Zwecke seitens der Diplomatie. Was hat sich nicht schon alles «hassen» müssen, was nachher mit seiner Liebe prahlte. Wie hassten sich Nord- und Süddeutsche! Die Begründung der Kriege durch den Völkerhass sind daher eitel Humbug und Betrug. Proklamiert heute die europäische Staatenunion und Ihr werdet sehen, wie sich Polen und Portugiesen plötzlich als Brüder fühlen werden.


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Sieh: S. 185-187, 193-194, 197-199 u. 203.