Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 31. März.

Vorgestern hat der Reichskanzler wieder gesprochen. Er betrachtete die Lage und ließ die Ereignisse länderweise Revue passieren. In erster Linie Russland. Hätte er sich gegen die Revolution ausgesprochen und seine Liebe für das Zarentum zum Ausdruck gebracht, so wäre das ein Fehler gewesen, den man nicht genug hätte tadeln können. Trotzdem sich der Kanzler in freundlicher Weise für das russische Volk ausgesprochen hat, den Zar als «Opfer eigner tragischer Schuld» preisgab, sich mit Nachdruck dagegen verwahrte, dass Deutschland «die kaum errungene Freiheit des russischen Volks vernichten» wolle, wurde einem bei seinen Versicherungen nicht warm ums Herz. Man weiß ja, dass das offizielle Deutschland die Revolutionen liebt, doch nur die, die in den feindlichen Ländern vorbereitet werden und sich dort vollziehen. Man sieht wie deutsche Staatsmänner, unterstützt von Professoren und Journalisten, Ehrfurcht erweisen vor Roger Casement, Chatterton-Hill, Carranza, Farid Bey, Enver Pascha, vor indischen, flämischen, polnischen Revolutionären, während die Mehrings, die Luxemburgs, die Liebknechts weniger angesehen und beliebt sind. Darum will mir diese Billigung der russischen Revolution nicht als so recht vom Herzen kommend erscheinen, und darum dürfte der an das russische Volk gerichtete Appell zum Frieden, die ausgedrückte Hoffnung auf die Wiederannäherung und die künftige gute Nachbarschaft beider Völker seinen Eindruck verfehlen. Um diesen Eindruck zu erzielen, das in der Rede enthaltene Friedensangebot glaubwürdig zu gestalten, hätte der Reichskanzler aus den russischen Ereignissen die natürliche Folgerung ziehen und dem deutschen Volk vorher jene demokratische Verfassung geben müssen, die es seit Jahrzehnten fordert. Dann hätte er als der dem deutschen Volk verantwortliche höchste Reichsbeamte sich mit der russischen Revolution glaubhaft verbrüdern können. Aber so . . ?

So, glaubt man dem Grafen Westarp mehr, der es in der gleichen Reichstagssitzung zuwegebrachte, angesichts der errungenen Freiheit in Russland, für Preußen und Deutschland das Festhalten an einem «Königtum von Fleisch und Blut» zu fordern, an einer «starken, lebensfähigen Monarchie, nicht im Sinne eines Dekorationsstückes», an Einrichtungen also, bei denen das Volk eher als Dekorationsstück gilt, und es als irrig zu bezeichnen, wenn «viele glauben, nachdem Russland in die Reihe der demokratisch regierten Staaten getreten ist, müsse auch Deutschland folgen.» Der konservative Graf glaubt das natürlich nicht! Ein anderer Parlamentarier, Stresemann, sagte in bezug auf das tragische Schicksal des Zaren: «Wer vom Engländer isst, stirbt daran.» Aber gestorben ist an dieser Speise nur das autokratische Zarentum. Dem russischen Volk ist das von England bereitete Mahl ganz gut bekommen, und da das Schicksal eines Volkes wichtiger ist als das einer unbeliebten Dynastie, so hat der Abgeordnete mit diesem umgewandelten Zitat eine Lehre ausgesprochen, vor dem ihm wohl Grauen erfassen muss, wenn er ihre Denkfolgerung überlegt.

Die Stellungnahme Deutschlands zum Zusammenbruch der Dynastie in Russland ist im höchsten Grad interessant. Leider ist sie bei der alles beherrschenden Zensur in ihrem ganzen Umfang noch nicht zu erkennen. Wie 1870 hat Deutschland hier den Anstoß zur Umwandlung einer Despotie in eine Demokratie gegeben. Es scheint die Mission des autokratischen Deutschlands zu sein, bei seinen feindlichen Nachbarn der Volkssouveränität zur Herrschaft zu verhelfen, Werkzeug der Demokratie zu sein. Das muss doch eines Tages dazu führen, dass das Werkzeug zum Objekt wird und das Volk, das die andern Völker befreit hat, sich selbst die Freiheit errichtet.

Die ausführlichen Berichte über die Reichstagssitzung vom 29. März liegen jetzt erst vor. Danach brauste ein frischer Märzenwind durch das Haus am Königsplatz. Alle Parteien mit Ausnahme der Konservativen forderten Reformen für das Reich und Preußen. Der Reichskanzler antwortete ausweichend und vertröstend. Er erklärte, die Überzeugung noch nicht zu haben, dass die Reformen unmittelbar in Angriff genommen werden müssten. Deutschland ist demnach für die Freiheit noch nicht reif, die für Russland hereingebrochen ist.