Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Thun, 20. Juli.

Vorgestern in Bern bei einer Sitzung der «Schweizer Vereinigung zum Studium der Grundlagen eines dauernden Friedens». Beschluss zur Abhaltung eines Studienkongresses für den Herbst in Bern. Der Kongress wird von dieser Vereinigung in Verein mit den niederländischen Anti-Oorlograad veranstaltet. Auseinandersetzung mit B. über dessen reklamehaftes Auftreten und der durch ihn geförderten Aufzucht des Dilettantismus. Im Ganzen keinen erhebenden Eindruck.

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Der schwedische Ministerpräsident Hammarskjöld empfing eine Abordnung des schwedischen Friedenskongresses der in Vorberg getagt hatte, um die dort gefassten Resolutionen entgegenzunehmen. Hiebei hielt er eine programmatische Rede, in der er nach dem offiziellen Telegramm sich über den Pazifismus aussprach. Darin heisst es:

«Er wolle nicht glauben, dass die schwedischen Friedensfreunde, die gegen innere Mißstände auftreten, auch gegenüber drohenden äusseren Mißständen, die nur mit Gewalt abgewendet werden können, eine einfache Friedenspolitik empfehlen würden, die darin bestände, alles zu ertragen, ohne etwas für Schwedens Recht und Freiheit einzusetzen. Es wäre tatsächlich gefährlich, wenn durch die Empfehlung des Kriegs als wünschenswert die Vorstellung Wurzel fasste, dass Schweden den Krieg wünsche. Aber gleich gefährlich wäre es, wenn man auf gewisser Seite die Überzeugung bekäme, dass Schweden unter allen Umständen den Frieden wolle und deshalb ohne eigentliche Gefahr nach Belieben behandelt werden könne».

Das ist die altbeliebte Verzerrung des pazifistischen Problems: Es gäbe Mißstände, gegen die Gewaltanwendung notwendig ist, und man dürfe auch nicht den Anschein erwecken, als ob man grundsätzlich jede Gewaltanwendung ablehnen würde. — Als ob je davon die Rede wäre! Die Gewaltabwehr wollen wir ja nicht beseitigen! Die Mißstände, von denen der Minister sprach, die nur mit Gewalt abgewendet werden können, die wollen wir beseitigen. Das ist schwierig? Gewiss! Aber nur deshalb, weil jeder Staat vorgibt, dass an den Mißständen, gegen die man sich mit Gewalt wehren muss, immer die Andern schuld sind. Dass Alle daran beteiligt sind, dass es das System ist, das den Nährboden des Übels abgibt, und alle daher zur Abhilfe gemeinsam beitragen müssen, will keiner einsehen.

Der Minister spricht von dem Notfall, den das üble System erzeugt, und hält es für einen Fehler, etwas andres als diesen Notfall ins Auge zu fassen, während doch unsre Tätigkeit darin liegt, jenen Notfall zu beseitigen.

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Die «Norddeutsche Allgemeine Zeitung» veröffentlicht eine Entgegnung auf die von Viscount Haldane am 5. Juli im National-Liberal-Club zu London gehaltenen Rede, worin der englische Staatsmann entwickelte, dass er schon lange von den geheimen Zielen einer deutschen Kriegspariei unterrichtet gewesen sei. Die offiziöse Entgegnung bringt eine Darstellung der anglo-deutschen Verhandlungen von 1912, über die in Deutschland bis jetzt nichts verlautet war, die aber durch englische Veröffentlichungen nicht unbekannt blieben.

Die in Betracht kommenden Stellen jener Veröffentlichung lauten:

«Die deutsche Regierung war bei diesen Verhandlungen bemüht, mit England zu einer den allgemeinen Frieden sichernden Verständigung auf Grund eines, kriegerische Konflikte zwischen beiden Mächten ausschliessenden, gegenseitigen Schutzabkommens zu gelangen. Als geeignetste Grundlage hiefür erschien der Abschluss eines gegenseitigen Neutralitätsvertrages. Die von deutscher Seite dafür zuerst vorgeschlagene Formulierung hatte folgenden Wortlaut:

,Sollte einer der Vertragschliessenden in einen Krieg mit einer oder mehreren Mächten verwickelt werden, so wird der andre Vertragschliessende dem in Krieg verwickelten Vertragschliessenden gegenüber mindestens wohlwollende Neutralität beobachten und nach allen Kräften für die Lokalisierung des Konflikts bemüht sein’.

England lehnte diesen Vorschlag als zu weitgehend ab und machte folgenden Gegenvorschlag:

,England wird keinen unprovozierten Angriff auf Deutschland machen und sich einer aggressiven Politik gegen Deutschland enthalten. Ein Angriff auf Deutschland ist in keinem Vertrag enthalten und in keiner Kombination vorgesehen, der England zur Zeit angehört, und England wird keiner Abmachung beitreten, die einen solchen Angriff bezweckt.'

Dieser Vorschlag war für Deutschland unannehmbar. Abgesehen von der Dehnbarkeit des Begriffs «unprovozierter Angriff» konnte lediglich das Versprechen, über den andern Vertragschliessenden nicht grundlos herzufallen, und keine aggressive Politik gegen ihn treiben zu wollen, unmöglich die Grundlage zu einem besondern Freundschaftsvertrag bilden. Die in dem englischen Vorschlag enthaltenen Zusicherungen sind Selbstverständlichkeiten in den gegenseitigen Beziehungen zivilisierter Staaten. Den von England geäusserten Bedenken gegen den deutschen Vorschlag suchte die kaiserliche Regierung dadurch entgegenzukommen, dass sie nunmehr folgende Formulierung vorschlug:

,Sollte einer der Vertragschliessenden in einen Krieg mit einer oder mehreren Mächten verwickelt werden, bei welchem man nicht sagen kann, dass er der Angreifer war, so wird ihm gegenüber der andre mindestens eine wohlwollende Neutralität beobachten und für die Lokalisierung des Konflikts bemüht sein. Die Vertragschliessenden verpflichten sich, sich gegenseitig über ihre Haltung zu verständigen, falls einer von ihnen durch eine offenkundige Provokation eines dritten zu einer Kriegserklärung gezwungen sein sollte.’

Auch diesen Vorschlag lehnte Sir Edward Grey ab, beschränkte sich vielmehr darauf, den ersten Absatz seines frühern Vorschlags in folgender, inhaltlich jedoch bedeutungslosen Form abzuändern:

,Da die beiden Mächte gegenseitig den Wunsch haben, Frieden und Freundschaft untereinander sicherzustellen, erklärt England, dass es keinen unprovozierten Angriff auf Deutschland machen und sich an einem solchen auch nicht beteiligen wird. Auch wird es sich einer aggressiven Politik gegen Deutschland enthalten’.

Um im Interesse des europäischen Weltfriedens ein äusserstes Entgegenkommen zu beweisen, ist die kaiserliche Regierung in die Diskussion auch dieses Vorschlags eingetreten, machte aber die weitern Verhandlungen von der Ergänzung durch folgenden Zusatz abhängig:

,England wird daher selbstverständlich wohlwollende Neutralität bewahren, sollte Deutschland ein Krieg aufgezwungen werden’.

Sir Edward Grey lehnte es ab, über die auf Grund eines Beschlusses des englischen Kabinetts angebotene Formel hinauszugehen. Er begründete seine Ablehnung mit der Besorgnis, andernfalls die bestehenden Freundschaften Englands mit den andern Mächten zu gefährden. Hierauf verzichtete Deutschland auf die Fortführung der Verhandlungen».

Über diesen letzten Vorschlag gibt die Schrift von Sir Edward Cook, «Comment la Grande Bretagne essaya de maintenir la paix. Exposé des négotions anglo-allemandes 1898—1914 (d’après les documents les plus authenthiques») einen nicht uninteressanten Aufschluss.

«Gegen die erste Bedingung», so heisst es dort, «konnte England keinen Einwand erheben. Gegenüber der zweiten Bedingung machte sich jedoch vom englischen Standpunkt ein sehr ernster Einwand geltend. Welche Folge zöge eine solche Bedingung nach sich? Sie bedeutet eine ernste Gefahr. Wenn Grossbritannien die Bedingung Deutschlands annahm, konnte es, nach der allgemeinen Gruppierung der europäischen Mächte sicher sein, bei jedem auf dem Kontinent entbrennenden Kampf sich abseits halten zu müssen. ln einem solchen Kampf könnte es Deutschland mit Leichtigkeit arrangieren, dass Österreich die Feindseligkeiten beginne. Wenn Österreich und Russland nun im Krieg wären, wäre Deutschland durch sein Wort verpflichtet, Österreich zu Hilfe zu kommen, während Frankreich verpflichtet wäre, Russland zu unterstützen, sobald dieses von zwei Mächten angegriffen wäre. Die Verpflichtung, die die deutsche Regierung von Grossbritannien wünschte, hätte dieses demnach verhindert, Frankreich zu unterstützen, welches auch die Ursache des Konflikts und welches dessen Ergebnis gewesen wäre. Die Freundschaft und das Vertrauen Fankreichs wäre verloren gegangen, da Grossbritannien Frankreich keinerlei Hilfe hätte bringen können, in dem Fall, wo Deutschland sich entschlossen hätte, in Form eines Ultimatums irgendwelche Forderung an Frankreich zu stellen. Den englischen Ministern konnten die Bedenken nicht entgehen, dass jene Periode während welcher England, nach dem Vorschlag des deutschen Kanzlers gezwungenermassen neutral wäre, es Deutschland gestatten würde, alles in seiner Macht stehende zu tun, um seine Suprematie auf dem Kontinent zu befestigen. Grossbritannien wäre so gelähmte Zuschauerin bis zu dem Tage geblieben, wo Deutschland seine gesamte Kraft gegen es hätte einsetzen können».

Das ist die englische Auffassung, die vom englischen Standpunkt sicher zu begreifen ist. Sie ergänzt in wichtiger Weise die deutsche Mitteilung, die der Sachlage nicht voll gerecht wird. Deutschland wollte England tatsächlich lahm legen, während England zu einem den Krieg in Europa ausschliessenden Staatensystem gelangen wollte, für das aber die deutsche Regierung nicht zu haben war. Die Geschichte dieser anglo-deutschen Verhandlungen wird später einmal sine ira et studio klargelegt werden müssen.