Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Spiez, 17. August.

Gestern bei Muehlon in Gümligen. Tief erschüttert von seinen Erzählungen über die kalten Vorbereitungen des Kriegs von deutscher Seite im Juli 1914. Alle Dementis Lüge. Acht oder neun Tage vor Erlass des österr.-ungarischen Ultimatums an Serbien sprach Helfferich darüber mit M. Er erzählte ihm alle Einzelheiten des Ultimatums und das richtige Datum des Erlasses. Er sagte ihm auch: «Die Österreicher» sind dieser Tage beim Kaiser gewesen. Der Kaiser habe sich mit Entschiedenheit für das Vorgehen Österreich-Ungarns ausgesprochen. Er habe gesagt, dass er einen österr.-ungarischen Konflikt mit Serbien als eine interne Angelegenheit zwischen diesen beiden Ländern betrachte, in die er keinem andern Staat eine Einmischung erlauben werde. Wenn Russland mobil mache, dann mache er auch mobil. Bei ihm bedeute Mobilmachung den sofortigen Krieg. Diesmal gäbe es kein Schwanken. Die Österreicher seien über diese entschlossene Haltung des Kaisers sehr befriedigt gewesen.

Auf Muehlons Einwand, dass das den Weltkrieg gewiss mache, meinte Helfferich, es sehe jedenfalls so aus. Vielleicht überlegten sich Russland und Frankreich die Sache doch noch anders. Den Serben gehöre entschieden eine bleibende Lektion.

Nach Essen zurückgekehrt unterrichtet M. Herrn Krupp von Bohlen über die von Helfferich gemachten Informationen. Dieser war betroffen, dass Dr. Helfferich im Besitz solcher Kenntnisse war, und sagte M. dann folgendes:

«Er sei selbst dieser Tage beim Kaiser gewesen. Der Kaiser habe auch ihm von der Besprechung mit den Österreichern und deren Ergebnis gesprochen, jedoch die Sache als so geheim bezeichnet, dass er nicht einmal gewagt haben würde, seinem Direktorium davon Mitteilung zu machen. Da ich aber einmal Bescheid wisse, könne er mir sagen, die Angaben Helfferichs seien richtig. Dieser Scheine freilich noch mehr Details zu wissen als er, Bohlen, selbst. Die Lage sei in der Tat sehr ernst. Der Kaiser habe ihm persönlich gesagt, er werde sofort den Krieg erklären, wenn Russland mobil mache. Diesmal werde man sehen, dass er nicht umfalle. Die wiederholte kaiserliche Betonung, in diesem Fall werde ihm kein Mensch wieder Unschlüssigkeit vorwerfen können, habe sogar fast komisch gewirkt.»

Als das Ultimatum genau an dem von Helfferich vorhergesagten Tag erschienen war, äußerte sich M. Helfferich gegenüber, dass er Ton und Inhalt des Ultimatums geradezu ungeheuerlich fände. Dr. Helfferich aber meinte, das klingt nur in der deutschen Übersetzung so. Er habe das Ultimatum in französischer Sprache zu sehen bekommen, und da könne man es keineswegs als übertrieben empfinden. Bei dieser Gelegenheit sagte ihm Helfferich auch, dass der Kaiser nur zum Schein auf die Nordlandsreise gegangen sei, ihr keineswegs die übliche Ausdehnung gegeben habe, sondern sich in jederzeit erreichbarer Nähe und in ständiger Verbindung halte. Nun müsse man eben sehen, was komme. Hoffentlich handelten die

Österreicher, die auf eine Annahme des Ultimatums natürlich nicht rechneten, rasch, bevor die andern Mächte Zeit fänden, sich hineinzumischen. Die deutsche Bank habe ihre Vorkehrungen schon so getroffen, dass sie auf alle Eventualitäten gerüstet sei. So habe sie das einlaufende Gold nicht mehr in den Verkehr zurückgegeben. Das lasse sich ganz unauffällig richten und mache Tag für Tag sehr bedeutende Beträge aus.

Muehlon berichtet weiter:

«Alsbald nach dem Wiener Ultimatum an Serbien gab die deutsche Regierung Erklärungen dahin ab, dass Österreich-Ungarn auf eigene Faust gehandelt habe, ohne Vorwissen Deutschlands. Bei dem Versuch, diese Erklärungen mit den obengenannten Vorgängen überhaupt vereinigen zu wollen, blieb nur etwa die Lösung, dass der Kaiser sich schon festgelegt hatte, ohne seine Regierung mitwirken zu lassen, und dass bei der Besprechung mit den Österreichern, deutscherseits davon abgesehen wurde, den Wortlaut des Ultimatums zu vereinbaren. Denn dass der Inhalt des Ultimatums in Deutschland ziemlich genau bekannt war, habe ich oben gezeigt. Herr Krupp von Bohlen, mit dem ich über diese, wenigstens der Wirkung nach, lügnerischen deutschen Erklärungen sprach, war davon gleichfalls wenig erbaut, weil in einer so schwerwiegenden Angelegenheit Deutschland doch keine Blanco-Vollmacht an einen Staat wie Österreich-Ungarn hätte ausstellen dürfen und es Pflicht der leitenden Staatsmänner gewesen wäre, sowohl vom Kaiser wie von den Bundesgenossen zu verlangen, dass die österreichischen Forderungen und das Ultimatum an Serbien auf das Eingehendste diskutiert und festgestellt werde und gleichzeitig das genaue Programm des weitern Verhaltens überhaupt. Gleichviel auf welchem Standpunkt man stehe, man dürfe sich doch nicht den Österreichern in die Hände geben, sich Eventualitäten aussetzen, die man nicht vorher berechnet habe, sondern hätte an seine Verpflichtungen entsprechende Bedingungen knüpfen müssen. Kurz, Herr v. Bohlen hielt die deutsche Ableugnung eines Vorwissens, falls in ihr eine Spur von Wahrheit stecke, für einen Verstoß gegen die Anfangsgründe diplomatischer Staatskunst, und stellte nur in Aussicht, er werde mit Herrn v. Jagow, dem damaligen Staatssekretär des Auswärtigen Amtes, der ein besonderer Freund von ihm war, in diesem Sinn reden. Als Ergebnis dieser Besprechung teilte mir Herr v. Bohlen folgendes mit: Herr v. Jagow sei ihm gegenüber fest dabei geblieben, dass er an dem Wortlaut des österreichisch-ungarischen Ultimatums nicht mitgewirkt habe, und dass eine solche Forderung von Deutschland überhaupt nicht erhoben worden sei. Auf den Einwand, dass sei doch unbegreiflich, habe Herr v. Jagow erwidert, das er als Diplomat natürlich auch daran gedacht habe, ein solches Verlangen zu stellen. Der Kaiser habe sich aber, in dem Zeitpunkt, in dem Herr v. Jagow mit der Angelegenheit befasst und hineingezogen wurde, schon so festgelegt gehabt, dass es für ein Vorgehen nach diplomatischem Brauch schon zu spät und nichts mehr zu machen gewesen sei. Die Situation sei so gewesen, dass man mit Verklausulierungen gar nicht mehr habe kommen können. Schließlich habe er, Jagow, sich gedacht, die Unterlassung werde auch ein Gutes haben, nämlich den guten Eindruck den man in St. Petersburg und Paris deutscherseits mit der Erklärung machen könne, dass man an dem Wiener Ultimatum nicht mitgearbeitet habe.»

Diese Aufklärungen hat mir Muehlon aus einem von ihm verfassten Schriftstück vorgelesen, das er mir dann gab. Von diesem habe ich es hier abgeschrieben. Nur einige Kürzungen habe ich gemacht. M. will das Schriftstück nicht veröffentlichen, jedoch zur Kenntnis aller maßgebenden Faktoren in Deutschland bringen.

Ich war nach der Kenntnisnahme dieser Mitteilung ganz konsterniert. Nun sieht man genau, wie der Krieg gemacht wurde und wer ihn gemacht hat. Wer die Österreicher waren die beim Kaiser gewesen, weiß M. nicht mehr. Man sieht aber deutlich, dass die verantwortlichen Persönlichkeiten vor eine vollendete Tatsache gestellt wurden, und nichts mehr retten konnten. Wenn man je daran gezweifelt hat, dass die Geheimdiplomatie abgeschafft werden müsste, so beweisen dies diese Mitteilungen über die Vorgeschichte des Kriegs. Nun weiß man auch, warum man keine Zeit geben wollte, und warum man alle Vermittlungsversuche abgelehnt hat. Man wollte überrumpeln. Und trotzdem die hartnäckigen Ableugnungen, dass man das Ultimatum nicht gekannt habe. Viele der Dokumente aus den Farbbüchern werden einem jetzt in einem andern Licht erscheinen.

Lange konnte ich mich von dem entsetzlichen Eindruck nicht erholen, den diese Offenbarungen auf mich gemacht haben. Das Fürchterliche an der Sache ist aber, dass die an der Oberfläche befindlichen Personen der deutschen Politik, Presse, Handelswelt, Diplomatie diese Vorgänge alle kennen, sie ihnen absolut nichts neues sind. M. selbst erzählt mir, dass alle Besucher aus Deutschland, denen er von seinen Erfahrungen Kenntnis gegeben hat, davon durchaus nicht überrascht waren, sich durchaus nicht betroffen fühlten. Sie wissen es alle mehr oder weniger deutlich. Und doch lebt diese Schicht seit drei Jahren in der Lüge und hält ein Millionenvolk in dieser Lüge gefangen. Das wird ein schwerer Reinigungsprozess werden, der das deutsche Volk wieder deutsch machen soll.