Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 3. November.

Den Fall der Miss Edith Cawell in Brüssel habe ich hier noch nicht festgehalten. Sie wurde zum Tode verurteilt, weil sie in grossem Umfang belgische, französische und englische Dienstpflichtige, die später in den feindlichen Armeen Dienste nahmen, ausser Landes befördert haben soll. Nach gefälltem Urteil wurde sie unverzüglich erschossen. Nach geltendem Kriegsrecht! Sie hat sich einer Handlung schuldig gemacht, von der sie wissen musste, dass sie mit dem Tode bestraft wird. — Damit mögen sich nun glücklichere Temperamente abfinden, meines kann sich dabei nicht beruhigen. In mir empört sich alles ob dieser Hinrichtung. Ich bedauere auf das Tiefste jene Zustände, die solche Verhältnisse erzeugen, dass so ungeheures Unrecht, wie die Versenkung der Lusitania, die Hinrichtung der Cawell und viele andere Ereignisse als Recht erscheinen können.

Nicht allein, weil es eine Frau war, die so jäh durch Schusswaffen aus dem Leben befördert wurde. Ich glaube, der Hinweis auf das Geschlecht ist nur eine Ausrede für unser Gemüt, eine Art Scham vor unserem menschlichen Empfinden. Denn es ist lächerlich, zu glauben, dass ein in das Herz geschossene Stahlprojektil einen Mann weniger schwer trifft als eine Frau. Uns empört vor allen Dingen, das geknickte Leben, das einer Ausnahmebestimmung zum Opfer fiel. Denn in normalen Zeiten würde die im Kriege mit dem Tod bestrafte Tat viel milder gesühnt werden. Und weil die Todesstrafe jede Wiederherstellung unmöglich macht, hassen wir sie, hassen wir sie als Überbleibsel einer längst als überwunden angesehenen Zeit, zumal dann, wenn sie nur als Nützlichkeitseinrichtung für den Vollstrecker ausgeführt wird, ohne Rücksicht auf die Motive der Tat. Die Cawell war eine Patriotin, die wir, wäre sie unserer Nation und unsere gegenwärtigen Feinde ihre Richter, als Heldin verehren würden, wie wir Schill und Andreas Hofer verehren, deren Tötung auch einmal das Ergebnis einer Rechtsanschauung und eines Gesetzes war.

Deshalb schmerzt mich diese Hinrichtung, deshalb empört sich mein Inneres. Es hätte bei einiger Erwägung der Folgen Begnadigung geben müssen! Eine Rechtfertigung des richterlichen Standpunktes in der Presse spricht von den grossen Gefahren, die dem deutschen Heer dadurch entstanden wären, wenn man die Meinung aufkommen liesse, dass man Frauen nicht hinrichten werde, und dass deshalb ein Exempel statuiert werden müsse. Das macht den Fall der Edith Cawell noch tragischer. Für eine Tat sterben zu müssen, lässt noch einige Versöhnung zu; aber den Tod als Warnung für andere erleiden zu müssen, nur damit jene gerettet werden, ist das Schrecklichste. Im übrigen halte ich die Aussicht auf eine langjährige Freiheitsstrafe abschreckend genug. Hat man aber überlegt, ob die Gefahr, die man gerade durch die Hinrichtung jener Frau erzeugte, nicht noch grösser ist als die, der man damit direkt glaubte, steuern zu können. Man hat eine nationale Märtyrerin geschaffen, die man den Deutschen nie vergessen wird. Wenn alles vergessen sein wird von diesem grausigen Kriege, wird der Leichnam dieser Frau noch schreien und Hass säen. Man wird zu ihren Gebeinen wandern, wie man zu der Richtstätte Robert Blums wandert. Diese Gefahr ist grösser als die, die der deutschen Armee, durch die ohnehin entwaffneten Belgier noch hätte drohen können. Die Hinrichtung der Edith Cawell war ein rechtmässiger Akt; und dennoch war sie «mehr als ein Verbrechen, ein Fehler.» Ich wünschte nur, dass deutsche Frauen ihr Mitleid für dieses Opfer des Kriegs zum Ausdruck brächten.