Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 22. Juli.

Die neuen Kriegskredite in der Höhe von 15 Milliarden wurden vorgestern allein gegen die Stimmen der unabhängigen Sozialisten angenommen. Die bisher bewilligten Kriegskredite erreichen damit die Höhe von 94 Milliarden Mark. Nur weil die Summe unvorstellbar ist, ist sie erträglich. Wie soll nach dieser Vergeudung des Wohlstands das «neue herrliche Deutschland» herauskommen, das der neue Reichskanzler für die Zeit nach dem Krieg in Aussicht stellte.

Der Kaiser versammelte die preußischen Minister, die Staatssekretäre, den Bundesrat und Delegierte der Parteien des Reichstags um sich.

Darunter befanden sich auch fünf Sozialdemokraten der Mehrheitsgruppe. Es ist das erstemal, dass der Kaiser mit Sozialisten zusammentraf. Das wird ja nun auch als ein ungeheurer Fortschritt bezeichnet. Ist es auch wohl. Nur ist es nicht der Fortschritt, der heute notwendig wäre. Das liebenswürdige Wohlwollen, das durch das Unglück des Kriegs geschaffen wurde, kann eines Tags wieder verrauchen. Das Volk braucht festverankerte Garantien für ein neu zu errichtendes demokratisches System, keine Huldbezeugungen.

Dieses Zusammentreffen muss die Erinnerung daran erwecken, wie gerade Kaiser Wilhelm die Sozialdemokratie behandelt hat, wie er sie verfolgen und ächten ließ. Jetzt braucht er sie zur Auffrischung seines eignen, durch den Krieg erschütterten Kredits, und nun findet er es, 29 Jahre nach seinem Regierungsantritt, angebracht, sie zu sich zu rufen und mit ihnen menschlich zu verkehren. Die Sozialdemokraten haben recht getan, dass sie sich nicht zurückzogen, und dass sie in die Zusammenkunft mit dem Kaiser willigten. Aber sie hätten ihre Bedingungen vorher stellen sollen. Es geht nicht an, dass Vertreter der deutschen Arbeiterschaft gesellschaftlich mit dem Kaiser verkehren, während einer von ihnen, Liebknecht, der nichts Unehrenhaftes begangen hat, im Zuchthaus zu Luckau mit Stiefelfabrikation beschäftigt wird. Dieses Urteil müsste durch das Begnadigungsrecht der Krone aufgehoben werden, wenn die Krone den Rat und die Unterstützung sozialistischer Abgeordneter sucht.