Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 1. Juni.

Eine Notiz aus dem «Berliner Tagblatt»:

«In den Festräumen des Reichstags findet am Donnerstag, 31. Mai, abends 7 1/2 Uhr, ein Gesellschaftsabend als Erinnerungsfeier an die Seeschlacht am Skagerrak statt. Der Ertrag der Veranstaltung wird der U-Boot-Spende zufließen. Nach Schluss des Programms findet Promenadenkonzert statt.»

In der Schlacht am Skagerrak gingen über neuntausend Menschen zugrunde, darunter 2586 deutsche Seeleute. Blühende Jugend fault seit einem Jahr am Grund des Meers. Und in den «Festräumen» zu Berlin feiern die Überlebenden bei «Promenadenkonzert». Es geht doch nichts über die kriegerische Romantik.

Da las ich gestern in der Skizze «Der Kamerad» Andreas Latzkos die Stelle:

«Ich sehe von meinem Fenster aus den ganzen Erdball wie einen toll gewordenen Kreisel tanzen, von stolzen Herren in schlauer Berechnung, von kriechenden Dienern in schleichender Ergebenheit gepeitscht.

Ich sehe die ganze Meute! Die Schreier, die zu hohl und zu trage, um das eigene Ich zu formen, sich blähen wollen im gleissenden Lob, das ihrer Herde gilt. Die Schurken, die von der Menge geschirmt, getragen, genährt, scheinheilig zu einem selbsterdachten Popanz emporblicken und ihn Millionen Braven ins Gewissen hämmern, bis die Masse geschmiedet ist, die nicht Herz noch Hirn, nur Wut und blinden Glauben noch hat. Ich sehe das ganze Spiel, das in Blut und Schmerzen weiterrast, und sehe die Zuschauer gleichgültig vorbeiwandern und heiße ein Narr, wenn ich das Fenster aufreiße, um hinunterzuschreien, dass die Kinder, die sie getragen und gehegt, die Männer, die sie geliebt haben, mit angstvoll rückwärts gewandten Augen wie Vieh geschlachtet, wie Wild gejagt werden!»

Das Skagerrak-Promenadenkonzert, das hat dieser Dichter noch nicht gesehen.

Die Erklärung der österreichischen Sozialdemokraten in Stockholm wird veröffentlicht.Vernünftig. Nur in dem Punkt, der die künftige Gestaltung der Weltordnung voraussieht, etwas oberflächlich. Haager Konferenz, Abrüstung, Miliz sind zu sehr Schlagwörter. Die Forderung der Verstaatlichung der Rüstungsindustrie ist nur ein konkreter Punkt dieses wichtigsten Programms für die Zukunft.

Aber sonst vernünftig. Friedensschluss ohne Annexionen, Serbien ans Meer, Trialismus in Österreich für die Südslaven, Autonomie für Polen und Ruthenen, auch für Posen (!). Offene Tür, Internationalisierung der Seestraßen und der Welteisenbahnrouten usw. Die Forderung einer Entwicklung des Seekriegsrechts hätte unterbleiben können. Was geht uns das «Recht» des Seekriegs an. Weg mit dem Krieg, das ist der einzige Schutz des Rechts aller Völker auf das Meer.

Wie werden die deutschen Ultras die Forderung der Freigabe Belgiens, der Autonomie Posens, des Verbots der Kriegsgebietserklärung des offenen Meers, die geforderte Einschränkung des Luftkriegs aufnehmen?

Ein sonderbarer Artikel in der «Norddeutschen Allgemeinen Zeitung», der die Feststellung enthält, dass zwischen den Kriegszielen Englands, wie sie Asquith in seiner jüngsten Rede formulierte, und denen der deutschen Regierung kein wesentlicher

Unterschied besteht! Hört! Hört!

Die Thronrede in Wien. Man merkt den Willen zu einem neuen Geist, aber von dem Geist noch nicht die Spur. Es wird von dem «in diesem furchtbaren Krieg so herrlich erstarkten Reich» gesprochen. Worin liegt die Stärke? ln der Staatsschuld, in der Armut des Volks, in seiner Entartung durch den Krieg? Es wird vieles darin gesagt, das wider den Geist der Demokratie und des Pazifismus ist. Wilson spricht anders! Und wenn der Kaiser sich vorbehält, den Eid auf die Verfassung später abzulegen, «zu dem hoffentlich nicht mehr fernen Zeitpunkt, wo die Fundamente des neuen, starken, glücklichen Österreichs für Generationen fest ausgebaut sein werden,» so klingt das wohl verheißungsvoll , beseitigt aber nicht die Tatsache, dass die Verschiebung des Verfassungseids den Staatsgrundgesetzen widerspricht. Der Kaiser spricht von einer «wahren Demokratie, die gerade während der Stürme des Weltkriegs in den Leistungen des gesamten Volks an der Front und daheim die Feuerprobe wunderbar bestanden hat.» Das durch militärische Disziplin an der Front und durch Ausnahmegesetze daheim Bewirkte hat keinerlei Kennzeichen demokratischen Sinns an sich. Demokratie ist etwas anderes.

Es ist auch die Rede von einer «gewaltigen Zeit, in der wir leben», der Menschenfreund und der Kulturstreber sieht in dieser Zeit nichts Gewaltiges, nur etwas furchtbar Trauriges, etwas das Leben Störendes, nicht es Erhebendes. Die Thronrede ist schön stilisiert, diejenigen, die für ihren Inhalt verantwortlich sind, bewiesen aber, dass der Geist, der allein den Völkern der Monarchie, der der Menschheit Befreiung bringen kann aus dieser entsetzlichsten Periode der gesamten Geschichte, ihnen völlig fremd ist.