Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 30. Dezember.

Die Delegationen des Vierbundes sind mit einem sofortigen allgemeinen Frieden ohne gewaltsame Gebietserwerbungen und ohne Kriegsentschädigung einverstanden... Sie erklären feierlich ihren Entschluss, unverzüglich einen Frieden zu unterschreiben, der diesen Krieg auf Grundlage der vorstehenden, ausnahmslos für alle kriegführenden Mächte in gleicher Weise gewährten Bedingungen beendet.

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Und weiter:

«Eine gewaltsame Aneignung von Gebieten, die während des Kriegs besetzt worden sind, liegt nicht in den Absichten der verbündeten Regierungen ... Es liegt nicht in der Absicht der Verbündeten, eines der Völker, die in diesem Krieg ihre politische Selbständigkeit verloren haben, dieser Selbstständigkeit zu berauben.»

Das sind die Hauptsätze aus der Erklärung, die die Zentralmächte am ersten Weihnachtsfeiertag in Brest-Litowsk abgegeben. Sie bilden ein Bekenntnis zu einem demokratischen Verständigungsfrieden, sie stellen ein neues Friedensangebot der Zentralmächte dar, und einen unumwundenen Verzicht auf Belgien. Bis zum 4. Januar ist den Weltmächten Frist gegeben, sich auf Grund jener Bedingungen zu einem allgemeinen Frieden zusammenzufinden.

Aber die Frist scheint nicht nur den Westmächten von den Zentralmächten gegeben. Auch die Friedensunterhändler der Zentralmächte scheinen von den deutschen Militärs eine Frist für ihre Friedensversuche erhalten zu haben.

Hinter Kühlmann und Czernin steht der Mann, der kürzlich das bedenkliche Wort gesprochen, man solle nicht zuviel vom Frieden reden, und wartet. Wartet noch bis zum 4. Januar, noch zehn Tage, um dann im Westen loszuschlagen und den Frieden zu holen nach seiner Art.

Eine Galgenfrist ist von den herrschenden Militärs den Friedensunterhändlern gewährt für das Gelingen ihres Werkes, das den Herren des Säbels sicher nicht viel Respekt einflößt. Da stehen sie bereit, mit ihren aus den Osten geholten Menschenmassen, mit ihren in Italien eroberten 5000 neuen Geschützen, mit ihren «verbesserten» Giftgasen, um im Westen den großen Tanz zu wagen, der auf jeder Seite einer halben Million Menschen das Leben kosten wird, und von dem sie Sieg und den Frieden, wie sie sich ihn denken, erwarten. Das größte Blutbad der Weltgeschichte soll vor sich gehen, Europa soll den letzten Stoß zum Abgrund erhalten. Das ist die Rückseite der groben Friedensgeste von Brest-Litowsk.

Kurze Hoffnung leuchtete auf. Vielleicht war jetzt doch der große Moment gekommen, wo das Friedenswerk von allen Beteiligten in Angriff genommen wird. Aber nur kurz war die Hoffnung.

In der Presse und in den Parlamenten der Westmächte erfolgte eisige Zurückweisung, Verhöhnung des neuen Friedensangebots, das Mißtrauen spricht aus jeder Zeile, aus jedem Wort.

Vielleicht wäre es jetzt gut, wenn die Zentralmächte neben ihren Berufsdiplomaten und Militärs einige Volksvertreter zu den Friedensverhandlungen entsandt hätten. Vielleicht hätte deren Mitwirkung in dieser Schicksalsstunde das Vertrauen in das Friedensangebot gestärkt.

Aber so wie die Dinge liegen, hat das Anerbieten vom 25. Dezember in England und Frankreich dazu beigetragen, die an der Regierung befindlichen Jusqu’auboutisten in verhärtester, borniertester und mächtigster Weise in Erscheinung treten zu lassen. Ganz wie Ludendorff, wie Lloyd George erklärte vorgestern Pichon in der französischen Kammer unter «lebhaftestem Beifall» « zuerst siegen!» Das ist eigentlich ein trostvolles Zeichen. Das Riesenvieh mit dem kleinsten Hirn, die Bestie Militarismus, muss doch binnen kurzem verrecken, denn mit einem solch geringen Quantum Vernunft kann man nicht leben! Alle wollen siegen, um zum Frieden zu gelangen, und sie erkennen nicht, dass das aller Logik widerspricht, und dass es nur einen Ausweg gibt: die Verständigung. Solch krankhaftes Denken ist das sichere Zeichen des Zusammenbruchs dieser Friedensbringer mit dem Stiefelabsatz. dieser Bis-zu-Ende-Philosophen, dieser ihrer Verantwortung gar nicht bewußten Vernichter Europas. Die Frage besteht für uns lediglich darin, ob der Zusammenbruch der jusqu’auboutisten früher erfolgt als der der Menschheit oder umgekehrt. Im letzten Fall hätten wir kein Interesse mehr an dem Untergang des einigen Dreigestirns Ludendorff-George-Clémenceau.

Die Tragik ist groß. In wenigen Tagen kann der Schlag ausholen. Kaiser Wilhelm hat es in seiner jüngsten Rede im Westen schon verkündet, dass mit eiserner Faust die Türe zum Frieden eingeschlagen werden soll, wenn die anderen den Frieden nicht wollen. (Ich möchte den Ton auf das Wörtchen «den» legen). In wenigen Tagen kann das Todesurteil über eine Million Menschen gesprochen, die Vernichtung weitergetragen werden in Europa, ohne schließlich etwas anderes zu bewirken, als eine unendliche Verlängerung des Verbrechens auf Jahre hinaus. Und die übergroße Mehrheit aller Menschen in allen Ländern ist für den Frieden. Nur ist ihrer nicht die Macht. Die Säbeltyrannen halten in allen Ländern die Schar der Durchhalter am Ruder. Europa kann jetzt, kann bis zum 4. Januar gerettet werden, durch eine Geste, die Kühlmann stärkt, und Ludendorff schwächt, die gleichzeitig den Lansdownes, Caillaux’, Giolittis die Macht gibt, über die Georges, Clémenceaus und Orlandos. Eine Geste, ein Wort, eine Frage, die von Wilson käme, könnte hinüberleiten zu einem allgemeinen Frieden. Am vierten Jahresschluß des Kriegs, der so viel vernichtet und noch so gar nichts hotten lässt, steht es traurig bestellt um die Menschheit. Sie stirbt! Sie stirbt an dem Wahn einiger Weniger, die da meinen, es könne eine Bestie vernichtet werden, wenn sie am freiesten, am ungebärdigsten einherläuft, die da nicht wissen, dass es genügt, der Bestie die Sehnen durchschnitten zu haben, um sie dann, wenn sie ihrer Macht beraubt, in die Ohnmacht des Alltags zurückgetrieben ist, am sichersten zum Krepieren zu bringen.