Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Vevey, 19. Oktober.

Aber ist es nicht schon zu spät? Wird nicht am Ende an Stelle des Pazifismus der Bolschewismus das noch übrigbleibende soziale Gewebe zerfressen, der Marasmus kommen statt der Genesung? Fast hat es den Anschein, denn was noch retten könnte, klare Besinnung, das ist jetzt von keiner Seite zu erwarten. Nicht von der Panik in Deutschland, noch von der Euphorie bei der Entente. Wenn Wilson wirklich der Retter der Menschheit sein will, dann darf er nicht dulden, dass die klugen politischen Erwägungen von den Argumenten der Militärs übertönt werden. Es muss ein Unterschied gemacht werden zwischen dem deutschen Volk, das ein betörtes Opfer war, und den Irrsinnigen, die es betört haben. Mit dem Versuch, das deutsche Volk zu demütigen, es der Rache der triumphierenden Militärs auszuliefern, wird dieses betrogene Volk noch einmal seinem Verderben in die Arme gespielt. Sie fangen schon an, die «nationale Verteidigung» zu predigen, den Moloch des «Prestiges» anzurufen, um das sentimentalen Regungen so leicht zugängliche Volk zur Hergabe des letzten Blutrestes zu verleiten. Haltet ein! Es ist der letzte Betrugsversuch, jetzt mit der Heldenpose Rettung zu verheißen. Es gibt keine Rettung mehr durch Widerstand. Das verlorne Spiel wurde unter Verbergung des kommenden Unheils zu lange weiter gespielt. Alles ist erschöpft, Hilfe von nirgends mehr zu erwarten. Widerstand leisten, hieße nur, noch Hunderttausende opfern, dem Feinde die Rechtfertigung für die blutige Rache im Land selbst leicht machen, heißt den Frieden unter gänzlichem Zusammenbruch als Diktat erwarten. Anreiz zum Widerstand durch Massenerhebung ist nur Fortsetzung der verbrecherischen Verführungskünste, mit denen dieser Krieg unternommen wurde. Es ist alles zu spät. Nur die entscheidende Trennung von den Irrsinnigen verspricht Rettung. Eine Regierung, die die Schuld am Weltkrieg bekennen kann, weil sie ihn nicht mitgemacht hat, die sich offen und ehrlich den siegenden Gegnern zu jenen Friedensbedingungen bereit erklärt, die Entschädigungen und Bube enthalten, die allein kann Deutschland reiten. Werft Elsaß-Lothringen hin; lasst seine Bewohner frei ihr Schicksal wählen, gebt den besetzten Osten frei und erkennt das Selbstbestimmungsrecht der deutschen Polen an. Macht das Verbrechen von 1866 wieder gut, jenen Urquell des heutigen Unglücks. Stellt das Land Hannover wieder her. Entweder als Königreich oder als Glied der deutschen Republik. Gebt Entschädigungen für eure Verbrechen akzeptiert den Völkerbund offen und ehrlich, die Abrüstung und den internationalen Rechtszustand. Dann kann Deutschland sich wieder erholen. Sonst nicht! Sonst kommt ein Friede, der das deutsche Volk zu Zinssklaven macht für ein Jahrhundert. Los von den Hohenzollern, los von den preußischen Junkern, los von den fanatisierten Militärs, von den Alldeutschen, von den Wehrvereinen und Flottenenthusiasten. Das Bismarckgift muss ausgeschieden werden mit seinen letzten Spuren. Nur wenn sich das deutsche Volk bereit macht, in die Weltassoziation einzutreten ohne jenen mittelalterlichen Ballast, dann kann es sich retten. Sonst stirbt es an Bismarck.