Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 27. Mai.

Die Frist zur Beantwortung der Friedensvorschläge ist der deutschen Delegation um acht Tage, bis zum 29. Mai, verlängert worden. Man will dann rasche Arbeit machen. In Deutschland geht die Bewegung für die Nichtunterzeichnung des Vertrags ihren Gang. Sie peitscht den Nationalismus auf und belebt den militärischen Geist.

Statt die Schuld am Weltkrieg doch nun unumwunden zuzugeben und den allein rettenden Strich zwischen Gegenwart und altem Regime zu ziehen, wird das Reinwaschen weiter unternommen und mit erkennbarer Planmäßigkeit die Verwirrung der Geister herbeigeführt.

Ein russischer Geheimerlass wird jetzt mit viel Getöse verbreitet, aus dem hervorgeht, dass Russland während der Mobilisierung diplomatische Scheinverhandlungen beabsichtigte, die die militärische Vorbereitung maskieren und die Befürchtungen des Gegners möglichst einschläfern solle.

Dieser «Geheimerlass» ist das augenfällige Produkt naiver Militärmentalität. Zunächst wird verschwiegen, von wem dieser «Geheimerlass» ausgeht, ja nicht einmal die deutsche amtliche Stelle, die ihn jetzt veröffentlicht, wird näher gekennzeichnet. Die Echtheit ist nicht erwiesen, aber dass Ideen dieser Art bestanden haben, braucht nicht bewiesen zu werden. Dass die Militärs stets ihr Augenmerk darauf richteten, ihre Kriegsvorbereitungen möglichst unbemerkt zu vollziehen, den Feind hinzuhalten, ist wahrlich nichts, das man uns erst zu enthüllen braucht. Das dürfte wohl bei allen Armeeleitungen Grundsatz gewesen sein. Die deutsche Stelle, die aber triumphierend diesen russischen Erlass produziert in der Meinung, damit bewiesen zu haben, wie logisch, wie vaterländisch im August 1914 es war, gleich loszuschlagen, irrt sich. Auch die Möglichkeit, dass durch das Zuwarten die Situation des Gegners sich bessert, ist keine Entschuldigung dafür, dass die Erschöpfung aller Friedensmöglichkeiten unterlassen wurde. Die Rettung des Friedens muss auch unter der Gefahr versucht werden, dass die Chancen der Kriegführung sich dabei verschlechtern. Denn der Friede ist die Hauptsache, nicht der Sieg. Das geht in ein Militärgehirn nicht hinein, und darum glaubt dieses, die frivole Auslösung des Weltkriegs gerechtfertigt zu haben, wenn es andeutet, dass das Schieß- und Stech- und Erstickgeschäft durch einen dem Frieden dienenden Schritt beeinträchtigt worden wäre.