Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Vevey, 18. Oktober.

Der Eindruck der Wilsonnote in Deutschland scheint furchtbar zu sein. Die Verderber des deutschen Volks erheben sich wieder hoffnungsvoll. Sie klirren mit den Waffen und wollen ihrer wahnsinnigen Romantik neue Hekatomben opfern. Was heißt es anders, wenn sie jetzt nach den Mustern der Vergangenheit zur nationalen Verteidigung aufrufen; was anders als die Herbeiführung eines großem und noch zwecklosem Blutbads, nach dessen Überwindung der Feind freies Spiel hätte mit dem alsdann wehrlos und widerstandsunfähig am Boden liegenden Deutschland? Die Verteidigung bis aufs äußerste hätte auch jetzt nicht den Zweck wie damals vor einem Jahrhundert. Jetzt handelt es sich nicht mehr um eine Eroberung Deutschlands, nicht mehr um eine Unterjochung. Die Feinde wollen heute nur die Autokratie, den Militarismus, die Amokläufer überwinden, das deutsche Volk selbst wollen sie frei haben, um es dem Bund freier Völker eingliedern zu können, der die einzige Schubwehr gegen den Völkermord bilden wird. Es ist Unsinn, zu glauben, dass die siegende Entente ein auf Rache sinnendes Deutschland schaffen wollte, das den Krieg wieder führen und alle Ruhe bedrohen müsste. Darum droht die schwerste Gefahr jetzt nicht von dem Übermut der siegenden Militärs, der nach jahrelanger Verzweiflung aufatmenden französischen Rachegefühle, sondern von des deutschen Volkes altem Übel, von den Verbrechern, die es in den Krieg getrieben, und die es jetzt mit sich reiben wollen in ihren eigenen Untergang.

Besinnung tut not! — Nach allem, was die Verführer des deutschen Volkes den Feinden zugefügt haben, darf man nicht erwarten, dass diese jetzt mit einer galanten Höflichkeit entgegenkommen werden. Es ist Wahnsinn, dies zu glauben. Der Friede, den Deutschland jetzt schließen muss, wird kein wicher Friede werden, er kann aber erleichtert werden durch eine kaltblütige Erfassung der Lage und durch ein mutiges Sichhineinfinden. Die Antwort Wilsons kann eine von den Militärs gewünschte Verschleppung beabsichtigen, sie kann aber auch als eine Brücke angesehen werden, die dem deutschen Volk den Rückzug erleichtern soll, eine Anregung, die ihm nahelegt, Dinge jetzt selbst zu tun, die es später unter dem Zwang der Feinde tun müsste, und es wäre gut, dieser Anregung Gehör zu schenken. Das deutsche Volk darf sich nicht durch Sentimentalitäten blenden lassen, es muss jetzt den Balast über Bord werfen, der ihm, wenn es ihn behält, Untergang verheißt, sonst aber Freiheit, Erholung und eine glänzende Wiedergeburt. Die Welt braucht die deutsche Demokratie, sie muss sie haben. Möge Deutschland sich sie selbst schaffen. Die neue Regierung ist ein Anfang, ein Versuch bloß. Es fehlt ihr die Garantie der Selbständigkeit, sie kann sich des Verdachts, bloß interimistisch zu sein, nicht begeben.

Die Rettung des deutschen Volkes liegt in der Erreichung eines unzweifelhaft neuen, eines unzweifelhaft demokratischen Deutschlands, hinter dem nicht mehr mit billigendem Schmunzeln die alten Machthaber stehen, die in der Welt die Überzeugung erhalten, als handle es sich um eine Demokratie von Gnaden der Dynastie, ihrer Generale, ihrer Junker, um eine Erlaubnis zu demokratischem Getue, die eines Tages wieder zurückgenommen werden wird. Für solch edle Ziele, die früher einmal sehr erfreulich gewesen wären, ist die Zeit nicht mehr reif. Auch alle historischen Bedenken, Pietätsbeweise, Sentimentalitäten dürfen hier keine Rolle mehr spielen. Der Krieg ist verloren. Das frevelhafte Spiel nimmt nicht den von seinen Arrangeuren erhofften Ausgang. Jetzt gilt es, zu retten, was zu retten ist. Und das sollten auch die schuldigen Spielarrangeure, sollten die alten Machthaber einsehen. Millionen blühender Menschen haben sie geopfert, nun sollten sie doch willig und rasch ihre Stellung im Staat dem deutschen Volk zum Opfer bringen. Ihr Verzicht könnte dem deutschen Volk Ungeheures bieten, sie könnten ihre Schuld dadurch mildern.

Gelingt es, dieses neue Deutschland fest und unerschütterlich zu errichten, so zu errichten, dass die neuen Männer die Handlungen der Abtretenden offen tadeln, dass sie eine Schuld bekennen können, an der sie nicht teilgenommen, nie teilgehabt haben, dann hat das deutsche Volk morgen den Frieden, der ihm Wiedergeburt verheißt, einen Frieden, der es innig mit der übrigen Welt vereint.

Freilich dazu gehören neue Männer. Solche, die niemals, auch in den Tagen der Siege nicht, den Tanz um den Eroberersäbel mitgemacht haben. Dazu gehören nicht nur Verzicht des Staatsoberhauptes, Verzicht der Junker und Militärs, sondern auch eine Abdankung des Reichstags. Dieser Reichstag, der den Siegerrummel in allen seinen Phasen mitgemacht, von der Überfallsgläubigkeit bis zum Brest-Litowsker Irrsinn, kann nicht in das neue Deutschland hinübertreten. Er ist kompromittiert. Das leidende Volk in der Heimat und an der Front muss neue Männer entsenden.

Anders, anders geht es nicht! Es wird sonst noch viel Blut fließen, um dann anders zu werden, wenn es wieder einmal zu spät ist. Einmal sollte doch die Besinnung zur rechten Zeit kommen.

Welchen Umfang in Deutschland die Auflehnung gegen die Kriegsurheber und Kriegsverlängerer angenommen hat, dafür spricht die nachfolgende, am Parteitag der bayrischen Sozialdemokratie (13. Oktober) angenommene Resolution:

«Der Parteitag fordert vom Reichstag die Einsetzung und Wahl eines Staatsgerichtshofs zur Feststellung und Aburteilung aller Schuldigen, die frühere Friedensaktionen zum Scheitern gebracht und damit für den unglücklichen Kriegsausgang und für die ungeheure Zahl von Opfern während und nach dem Krieg die Verantwortung zu tragen haben. Diese Untersuchung hat vor keiner noch so hoch stehenden Person Halt zu machen. Ferner fordert der Parteitag einen nach dem Willen des Volkes durch Gesetz herbeizuführenden Straferlass und Untersuchungseinstellung bezüglich aller politischen Verbrechen und Vergehen. Ferner wird unter Betonung der sozialdemokratischen Grundsätze vom Parteitag die Überführung Deutschlands in einen Volksstaat mit vollem Selbstbestimmungsrecht und Selbstverwaltung in Reich, Staat und Gemeinde gefordert. Zur Verhütung künftiger Kriege ist die Eingliederung der deutschen Nation in den Bund der freien Völker notwendig.»

Das alte Europa ist aus den Fugen. Die Reaktionäre brechen zusammen oder suchen sich durch Konzessionen zu retten. Welche Ereignisse an einem einzigen Tag! Douai, Lille Ostende sind in den Händen der Entente. Die Deutschen verlassen die belgische Küste, Kaiser Karl hat durch ein Manifest Österreich als Bundesstaat erklärt, Ungarn proklamiert seine Loslösung von der Monarchie. Graf Karolyi führt im ungarischen Abgeordnetenhaus die Anklage gegen die Staatsmänner der Monarchie: sie haben den Krieg verschuldet, der Krieg sei verloren, retten wir wenigstens den Frieden. Im Süden rücken die Serben in ihrem Land immer weiter vor. — Wer hätte diesen Wandel noch vor zwei Monaten für möglich gehalten. Der Wahnsinn zerbricht, die Blutschuldigen verlieren den Kopf, der Pazifismus siegt in der Welt. Die weiße Fahne, die wir hochgehalten, kommt zu Ehren. Der Pazifismus ist die Rettung, die einzige Hoffnung der armen gequälten Menschheit.