Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 3. Dezember.

Russische Rote-Kreuz-Damen sind in Wien angekommen, von wo aus sie die russischen Gefangenenlager in Österreich und Ungarn besichtigen werden, wie dies einige Damen der Monarchie in Russland tun werden. Man hat die Ankunft der Russinnen mit besonderer Liebenswürdigkeit und Höflichkeit umgeben. Sie wurden am Bahnhof von Vertretern des Kriegsministeriums — auch des Roten Kreuzes — begrüsst; später hat sie der Kaiser empfangen. Seltsam sticht dieses europäische Benehmen von den kriegerischen Massnahmen ab, mit denen sich die Völker beider Staaten jetzt gegenseitig bearbeiten. Diese ritterliche Ausnahmebehandlung von Staatsangehörigen, mit denen man im Krieg ist, lässt den Krieg in seiner ganzen Schrecklichkeit erscheinen und einen Einblick in sein Wesen tun, wonach er immer mehr als Mache erscheinen muss. Wenn wir höflich sein können in diesem Fall, kann man den Grund nicht einsehen, warum man dies nicht auch vorher zum Zweck der Vermeidung der Katastrophe hätte sein können. Eines passt zum andern nicht. Entweder wir sind Bestien, dann muss der Zwang, der uns dazu bringt, derartig sein, dass Ausnahmen nicht möglich sind; oder wir sind Kulturmenschen, dann ist der Zwang nicht vorhanden, der uns eine zeitlang berechtigt, Bestien zu sein. Wir lassen ihn uns bloss einreden.

Im Deutschen Reichstag ist eine Vorlage für die Besteuerung der Kriegsgewinne eingebracht worden. Das entspricht vollkommen dem sozialen Empfinden. Nur sollte ein solches Gesetz auch auf die Kriegsgewinne im Frieden ausgedehnt werden. Die patriotische Schwerindustrie macht ihr Geschäft, auch wenn nicht gerade Krieg ist, und trägt nicht wenig dazu bei, die Gefährdung des Friedens aufrecht zu erhalten. Auch hier wäre es angebracht, eine besondere Besteuerung einzuführen.