Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 2. Juni

«Sollen wir vielleicht Deutschlands Zukunft in das Wölkenkuckucksheim einer internationalen Kulturpolitik verlegen?» so fragte unter dem Beifall der Rechten der nationalliberale Abgeordnete Hirsch aus der Kanonenstadt Essen in der Reichstagssitzung vom 30. Mai. Er tat diese Äusserung unter Hinweis auf die Möglichkeit einer Friedensvermittlung durch Wilson. Das Wölkenkuckucksheim einer internationalen Kulturpolitik! Natürlich lieber auf dem realen Boden der 42 cm - Mörser durch die Geschichte wandeln bis glücklich alle Völker der Erde sich gegen das Deutsche Reich verbunden haben werden wie gegen einen Amokläufer, das würde den Kanonenfabrikanten besser passen, als die Heilung der Anarchie zwischen den Völkern durch eine bewusste Kulturpolitik. Diese stürmische Reichstagssitzung war im höchsten Grade erfreulich, sie zeigte, dass sich die Konservativen schon in der Opposition befinden, dass die Regierung ohne sie und gegen sie vorgehen muss, wenn sie auf dem Boden der Tatsachen stehen bleiben will. Sie hat die U-Bootforderung zum Entsetzen der Kriegstreiber aufgeben müssen, sie wird auch die Annexionsforderungen aufgeben müssen.

Es wird nicht ohne Knirschen gehen, aber die Reaktion wird weichen müssen. Die Reichstagssitzung vom 30. Mai zeigte die Anfänge dieses Rückzuges. Die Worte, die der Abgeordnete Noske in jener Sitzung gesprochen, werden sich erfüllen:

«Mehr wie jemals bin ich von dem Gefühl durchdrungen, dass, wenn erst einmal der furchtbare Druck des Kriegs von den Volksmassen genommen wird, man sich entsetzt in allen Ländern fragen wird, wofür denn diese Hinschlachtung von Millionen unserer besten Menschen, die Hinopferung von Hunderttausenden wertvollster blühender junger Menschen? Ich bin überzeugt, die Folge wird sein das Bestreben, sich gegen eine Wiederholung dieses Kriegs zur Wehr zu setzen, und alle diejenigen werden ihre Wunder erleben, die heute hoffen, dass die Zeit der uferlosen Rüstungen und der Verschärfung der Völkergegensätze dauernd bleiben wird».

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Die Reise des Reichskanzlers an die süddeutschen Hofe scheint mit der Friedensfrage und der Stärkung der Stellung des Reichskanzlers gegenüber den Kriegsultras zusammenzuhängen. Es ist bemerkenswert die Meldung des «Berliner Tageblatts» (31. Mai) aus München, worin festgestellt wird, dass im Hinblick auf die Friedensziele, «die höchste Stelle und die leitenden Persönlichkeiten durchaus mit den Richtlinien des Reichskanzlers übereinstimmen, und dass die Anschauungen darüber an jenen Stellen, insbesondere auch der höchsten, verständnisvoller für die Realitäten der Lage sind, als bestimmte, nicht näher zu bezeichnende Kreise glauben». Also die Bundesfürsten gegen die preussischen Kriegsultras! Bezeichnend ist auch, dass in jener Meldung die Mitteilung verbreitet wird, dass es auf den Kanzler Eindruck gemacht habe, dass seine Rede vom 5. April und sein amerikanisches Interview im feindlichen Ausland missverstanden wurden. «Immer werde mit dem ganz und gar unrichtigen Satze operiert, als ob der von uns gerade okkupierte Besitz als künftige Grenze gelten solle». Das ist ein weiteres Entgegenkommen für die Friedensverhandlungen. Darf man hoffen? Ich fürchte nur, dass damit die wahre Situation der Kriegführenden auch noch nicht voll erkannt ist. Die Alliierten sind nicht besiegt. Und vom Unbesiegten darf man auch nicht die Zedierung nur eines Zolls von Gebiet erwarten. Wird diese Einsicht nicht noch zur rechten Zeit dämmern?