Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Locarno, 24. März.

Die Besprechung der Denkschriften des Prinzen Lichnowsky und des Dr. Muehlon im Hauptausschuss hat doch etwas Gutes gezeitigt. Die Denkschriften sind jetzt in der deutschen Presse veröffentlicht worden. Man tut es mit der gewiss gerechtfertigten Absicht, den Bannflüchen des Herrn von Payer die materielle Grundlage zu geben. Wer aber zu lesen versteht, wer infolge des von seiten des amtlichen Dementierapparats auf die Intelligenz des Durchschnittsdeutschen ausgeübten Drucks seine Denkfähigkeit noch nicht eingbüßt hat, wird aus den beiden Dokumenten die Wahrheit und die völlige geistige und moralische Gesundheit ihrer Verfasser herauslesen. Sie taten ja nichts andres, als die Gedanken über die deutsche Schuld am Weltkrieg, die unzähligen Personen, die die Ereignisse mit klarem Blick verfolgten, vom Anfang an klar war, im Bereich ihrer Erfahrungen mit Tatsachen und Indizien zu belegen. Dem deutschen Volk wird jetzt vorgemacht, als ob es sich hier um Einzelerscheinungen handle, um Outsiders. Das kann den Offiziösen eine Zeit lang gelingen, weil es den Gleichgesinnten und Gleichüberzeugten heute noch unmöglich ist, sich zu rühren, den offiziell Gezeichneten mit ihrer Zustimmung zu Hilfe zu kommen, weil es andern, die reiches Tatsachenmaterial zur traurigen Vorgeschichte dieses Kriegs besitzen, nicht gestattet ist, ihr Wissen zu bekennen und den sehr zahlreichen Menschen dieser Art, eine Indiskretion noch nicht zur Hilfe gekommen ist. Nein und tausendmal nein! Sie stehen nicht allein, die Lichnowskys und die Muehlons, und nachdem nun ihre Darlegungen in weiten Kreisen gelesen wurden, werden sie noch weniger allein stehen und wird der Glaube an ihr Pathologentum nicht weit gehen.

Die Veröffentlichung der Denkschrift Lichnowskys hat auf mich einen tiefen Eindruck gemacht. Sie bestätigt so ziemlich alles, was ich selbst von allem Anfang an empfunden, und was ich in diesen Blättern niedergelegt und bis jetzt nur zum Teil veröffentlicht habe. Es bestätigt aber auch die Ansichten wie sie in den Büchern des Verfassers von J’accuse, Fernau, Suter-Lerch, Head. Iam, Stowell, Beck und zahlreichen andern zum Ausdruck gebracht wurden. Wie ein Scheinwerfer beleuchtet doch allein der Satz bezüglich der serbischen Antwort auf das österreichische Ultimatum die Schuldfrage und das Märchen vom «ruchlosen Überfall»:

«Die serbische Antwort entsprach den britischen Bemühungen, denn tatsächlich hatte Herr Paschitsch alles angenommen, bis auf zwei Punkte, über die er sich bereit erklärte, zu verhandeln. Wollten Russland und England den Krieg, um uns zu überfallen, so genügt ein Wink nach Belgrad und die unerhörte Note blieb unbeantwortet. »

Das ist so quellklar, so logisch richtig, das wohl in Zukunft viele Mühe und Selbstverleugnung dazu gehören wird, sich in der Grimasse des Uberfallsgläubigen zu geben.

Genügen nicht Sätze wie folgende?:

«Dieser Wink (nach Österreich) ist nicht ergangen. Im Gegenteil, es wurde zum Krieg gedrängt.»

«Wir bestanden auf den Krieg.»

«Alles nutzte nichts, in Berlin blieb man dabei, Serbien musste massakriert werden.»

Wie vernichtend sind die drei Schlussfolgerungen der Denkschrift, die feststellen:

1. Die Ermutigung Berchtolds durch Berlin.

2. Die Ablehnung der britischen Vermittlungsvorschläge.

3. Das Ultimatum an Russland in dem Augenblick, da Berchtold mit Russland zu verhandeln begann, wodurch «die Möglichkeit einer friedlichen Beilegung geflissentlich vernichtet» wurde.

Und so wie der Krieg nicht aus einem Überfall auf Deutschland entsprang, so ist auch seine Verschärfung und Verlängerung durch die jetzt losgelöste Offensive nicht nötig gewesen. Kriegsbeginn und Kriegsfortsetzung sind lediglich bedingt durch die verschleierte Eroberungsabsicht Deutschlands. Nach Wilsons letzter Botschaft mit den vier Grundsätzen für einen Frieden ist jedes Opfer an Menschenleben überflüssig gewesen. Hertlings Antwort jedoch, die scheinbar zustimmend sich gab, wurde diskreditiert durch die Friedensschlüsse im Osten. Die Deutschen melden bereits siegreiche Vor stöße und das Wolff-Bureau begleitet sie mit jubelnden Kommentaren. Die achte Kriegsanleihe schreitet fort. Auf der Berliner Börse hieß es: In diesen Siegen werdet ihr zeichnen!