Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 30. Mai.

Der deutsche Gegenentwurf, der heute in Versailles überreicht wurde, ist ein würdiges und vernünftiges Dokument. Gegenüber den Vergewaltigungsbestimmungen des Friedensentwurfs der Alliierten gewinnt der deutsche Entwurf an Bedeutung, was ja wahrhaftig kein Kunststück ist. Der deutsche Entwurf geht von den Bestimmungen des Waffenstillstands aus, der, abgesehen von ganz bestimmt bezeichneten Ausnahmen, die vierzehn Punkte Wilsons als Grundlagen der Verhandlungen anerkannte.

«Deutschland hat ein Recht auf diese Friedensgrundlagen. Ihr Verlassen auf Seiten der Alliierten wäre der Bruch eines völkerrechtlichen Abkommens.»

Das ist unbedingt wahr, und die Wahrheit wird nicht abgeschwächt durch die Tatsache, dass eine frühere Regierung des jetzt die Beschwerde erhebenden Volkes zu Beginn des Kriegs über den Bruch völkerrechtlicher Abkommen anders gedacht hat. Mit Geschick führt die deutsche Erwiderung die während des Kriegs seitens der Staatsmänner der Entente getanen Äußerungen an, zu denen die jetzigen Friedensbedingungen im argen Widerspruch stehen. Diese Zitatensammlung kann nicht ohne Eindruck bleiben. Sie enthält eine schwere Anklage gegen die heutigen Staatsmänner der Entente, aber auch eine nicht minder schwere gegen die Militärgeister in Deutschland, die durch ihr unsinniges Gebahren den Deutschland so günstigen Geist verlorengehen ließen und den Militärmachthabern dort zur ausschlaggebenden politischen Macht verhalfen. Hätte Geist in Deutschland geherrscht, nicht der Säbel, dann wäre der Friede zu einer Zeit geschlossen worden, als die Staatsmänner der Entente noch die Macht besaßen, die Vernunft zur Geltung zu bringen.

Es ist zu verwundern, zu welchen Bedingungen die deutschen Delegierten sich einverstanden erklären. Sie willigen ein zur Verminderung der deutschen Armee auf 100 000 Mann und wollen auch die ihnen noch verbleibenden Kriegsschiffe abgeben, wenn man ihnen dafür Handelsschiffe lässt. Welch bittre Ironie der Weltgeschichte. Einst wurde die Flotte gebaut zum Schutz des Handels, heute möchte man ihre letzten Reste abstoßen, um nur den Handel zu retten.

An Kriegsentschädigung bieten die Delegierten hundert Milliarden in Gold! Hundert Milliarden! Arme Menschheit! Wieviel Glück hätte ihr beschieden werden können nur mit einem Bruchteil dieser Summe! Und noch immer sieht sie den Wahnsinn nicht ein, treibt sie weiter die Politik der Anarchie, die abermals dem Krieg zusteuert.

Die Anrufung des Selbstbestimmungsrechts für die zur Loslösung bestimmten Gebiete ist eine gerechte Forderung, deren Unterlassung für die Entente zum Unheil gereichen wird.

Die Aufstellung der deutschen Gegenvorschläge wird kaum ein sofortiges Ergebnis für Deutschland haben. Aber ohne Ergebnis wird sie nicht bleiben. Sie bildet den Schatten zu dem Versailler Elaborat, der dessen Konturen nur um so deutlicher und schärfer erscheinen lassen wird.

Es ist kaum anzunehmen, dass die Entente in wesentlichen Punkten nachgibt. Sie ist so froh, dass sie unter sich zu einer Einigung gekommen und den Krieg der Beutemacher untereinander vermieden hat, dass sie nicht wagen wird, an dem Bau des Ganzen zu rühren.

Was werden sie tun in Deutschland?

Es scheint so, als ob man zu der Tollheit entschlossen wäre, nicht zu unterzeichnen. Dann kann es finis germaniae heißen, denn der Ententeplan, mit den deutschen Einzelstaaten zu Friedensschlüssen zu kommen, ist nicht unausführbar. Was will man mit der Nichtunterzeichnung erreichen? Kann dieser Frieden überhaupt verbessert werden? Auch das weitgehendste Entgegenkommen macht aus diesem Zuchthausreglement keinen Friedensvertrag.

Warum ziert man sich denn, die Unterschrift darunter zu setzen? Warum will man denn gerade jetzt die Gewissenhaftigkeit selbst sein, wo es gar nicht angebracht ist? Dieser Vertrag ist ja nichteinmal ein Fetzen Papier. Er ist viel weniger.

Unterzeichnen! Ruhig unterzeichnen und dabei erklären, dass man nicht daran denkt, sich an diese Bestimmungen länger gebunden zu erachten, als sie durch Zwang aufrecht erhalten werden können.

Vertragstreue? In allen Ehren. Niemals soll in der Menschheitsgeschichte ein Vertrag zwischen zwei Völkern mehr gebrochen werden. Höchste Strafe den Vertragsbrechern, den Störern aller Ordnung und Sicherheit. Aber nur Treue einem wirklichen Vertrag gegenüber!

Ist das ein Vertrag? Ein Vertrag ist das Ergebnis von Beratungen der Parteien, von einem zwischen ihnen getroffenen Ausgleich, bei dem jeder etwas gibt und die Verpflichtung eines jeden den andern bindet und bereichert . Trifft das zu bei jenem Schriftstück, das in der Pariser Geheimküche gebraut und in Versailles als Schaugericht öffentlich aufgetischt werden soll? Ist die mit dem gespannten Revolver abgeforderte Unterschrift bindend, ist eine Erpressung ein Abkommen, hat irgendwo die Ausnützung einer Notlage durch Anwendung von Gewalt Gesetzeskraft? Schließt der Verbrecher mit dem Gerichtshof, der ihn ins Zuchthaus steckt, einen Vertrag? Bricht er einen Vertrag, wenn es ihm gelingt, zu entweichen?

Ist überhaupt jemals in der Geschichte ein einem Besiegten vom Sieger auferlegter Vertrag länger gehalten worden, als der Sieger die Macht besaß, ihn zu erzwingen? Und das wissen ja die Friedenskünstler in Versailles ganz genau, dass es sich bei der Erfüllung ihrer hundert Paragraphen nicht um die Unterschrift des Grafen Brockdorff-Ranßau handelt, damit dieser Vertrag Geltung erhalte, sondern dass ihre eigenen Kanonen, Kriegsschiffe, Bajonette und Fliegerbomben die Garantie der Erfüllung sind. Wenn diese eines Tages aus irgendeinem Grund ihre Kraft verlieren, hört die Erfüllung auf, ist die Zuchthausordnung von Versailles gewesen.

Also warum unterschreibt man nicht? Warum heuchelt man, als ob man wirklich ein auf Treu und Glauben errichtetes Abkommen vor sich hätte, dessen Geltung durch die Unterschrift heilig besiegelt ist.

Der Friede, der wirkliche Friede, der die ehernen Quadern der Ordnung errichtet und darauf das Heil der gequälten Menschheit stützen wird, der wird ein andermal und von ganz anderen Menschen unterzeichnet werden.