Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 10. November.

Die letzten Stunden des Weltkriegs! Der Waffenstillstand kann bereits abgeschlossen sein; er muss bis morgen vormittag 11 Uhr unterzeichnet werden. Das internationale, das organisierte Morden wird nun nach 51 Monaten aufhören. Ob aber nicht das nationale, das unorganisierte Morden erst recht einsetzen wird, das ist die bange Frage, die uns beschäftigt. Die Ereignisse weisen darauf hin. In Deutschland ist die Revolution im vollen Gang. Die Truppen schließen sich ihr an. In Berlin machen die Garderegimenter gemeinsame Sache mit dem Volk. Rote Fahnen wehen. Das Haus des «Vorwärts» schützen Naumburger Jäger. Es geht bis jetzt ziemlich unblutig und geordnet von statten. In München haben die Truppen und die Polizei sich in den Dienst der republikanischen Regierung gestellt. Das Haus Wittelsbach ist gestürzt. Alle Staatsämter sind von den Republikanern übernommen worden. Ebenso wird die Bildung von Arbeiter- und Soldatenräten aus Köln, Frankfurt und anderen Städten gemeldet. Der Sozialdemokrat Ebert ist bereits Reichskanzler. Es kommt die Republik. Das Volk steht auf. Es hat die Ketten des autokratischen Staates zerrissen, es hat durch die Qualen dieses verruchten Kriegs sich auf sich selbst besonnen und das Mittelalter völlig abgestreift.

In dieses heilige Werden hinein grinsen die Waffenstillstandsbedingungen der Entente, die heute, zum Teil wenigstens, bekannt wurden. Es sind wohl die erniedrigendsten Zumutungen, die seit den Barbarenzeiten des Altertums einem Volk gemacht wurden. Schon die Form, unter welcher sie gestellt wurden, zeigt die militaristische Gesinnung. Binnen 72 Stunden ja oder nein. Es liegt der typisch militaristische Sadismus darin. Rache, Erniedrigung, Weiden an des Gegners Qualen. Nicht dass ich der Meinung wäre, deutsche Militärs hätten andere Bedingungen geschaffen. Hindenburg hat es ja angekündigt, dass er im Westen «keinen weichen» Frieden machen werde. Sie wären sicherlich noch widerlicher gewesen mit ihrem «deutschen Gott» und ihrem «deutschen Schwert». Dass aber die Ententemilitärs so in demselben Geist, nach der gleichen Schablone handeln, das beeinträchtigt mir ein wenig die Freude an den Sieg der Westvölker.

Belgien, Frankreich, Elsaß-Lothringen werden binnen vierzehn Tagen geräumt. Das linke Rheinufer mit Mainz, Köln, Koblenz wird besetzt, 5000 Kanonen, 30 000 Maschinengewehre, 3000 Minenwerfer, 2000 Flugzeuge, 5000 Lokomotiven, 150 000 Eisenbahnwaggons, 10 000 Autos werden abgeliefert. Verzicht auf die Verträge von Brest-Litowsk und Bukarest, Kapitulation von Deutsch-Ostafrika, Rückgabe aller Gefangenen ohne Gegenseitigkeit, Auslieferung von 100 Unterseebooten, 6 Dreadnougths, 8 Kreuzern, Aufrechterhaltung der Blockade. Das sind die Hauptpunkte des schmählichen Vertrags, den Deutschland annehmen muss, wohl schon angenommen hat. Der Waffenstillstand währt dreißig Tage. Kommt es bis dahin nicht zum Frieden, wird der Krieg nach Deutschland hineingetragen.

Das ist das Los, das die verbrecherischen Urheber des Kriegs dem deutschen Volk beschert haben. So grausam es ist, es ist begreiflich, es ist verständlich. Sind doch in diesen Bedingungen jene Gefühle summiert, die hervorgerufen wurden durch den frivolen Beginn des Kriegs, durch den Einfall in Belgien, die Zerstörung von Löwen, Dinant, und anderen belgischen Städten, durch die Füsilierungen und Deportationen von Bürgern, durch die Hinrichtung einer Cawell, eines Kapitän Fryatt, durch die Versenkung der Lusitania, der Sussex, der Tubantia und der zahllosen anderen Schiffe, durch die Fliegerbombardements von London, Paris und anderen Städten, durch die Zerstörungen beim Rückzug an der Somme, den Unterseebootkrieg, die frivole und zwecklose Fernbeschießung von Paris, durch die fast vierjährige Seelen-qual der Bevölkerung in Nordfrankreich. und Belgien, durch den namenlosen Mord der zahllosen Jugend auf den Schlachtfelder aller fünf Wellteile. Wahrhaftig, so betrachtet, sind die Bedingungen noch milde für ein Land, dessen Gebiete vom Krieg fast ganz verschont geblieben sind.

Der Krieg geht zu Ende, ist zu Ende. Nun wird es sich zeigen, ob der Friede dem von den Militärs diktierten Waffenstillstand gleichen wird, ob das deutsche Volk, das sich von seinen Bedrückern befreit hat, nichts mehr gemein hat mit der Schuld am Krieg, nichts mit den verübten Greueltaten, ob dieses Volk bestraft werden soll durch einen unterdrückenden und drückenden Frieden. Das wäre so, als ob man die Belgier auch bestrafen wollte, weil sie die deutsche Invasion ertragen mussten.

Nein! Nein! Der Friede muss ein endgültiger, ein die Freiheit aller, ein den Krieg tötender Friede sein, kein Rachefrieden militärischen Geistes.

Fast könnte man es hoffen, wenn man heute liest:

Aus Paris. «Die Boulevards wimmeln von Spaziergängern. Trotz der mürrischen Witterung herrscht festliche Stimmung. Alles kauft Fahnen.»

Aus Berlin: «Vor dem Vorwärtsgebäude . . . weht die rote Fahne. Es herrscht ungeheurer Jubel und ungeheure Begeisterung.»

Also es gibt nur Sieger! Der gemeinsame Feind, der Militarismus und die Autokratie, liegen am Boden. Mögen die Männer, die das künftige Europa errichten, dessen gedenk sein. Es gilt eine Einigung, die schon vorhanden ist, zu erhallen, nicht zu zerstören.