Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Interlaken, 25. Juni.

In den Hauptstädten der Ententestaaten ertönten am Abend des 23., nachdem die Kunde von der Bereitwilligkeit der deutschen Regierung zur Unterzeichnung sich verbreitet hatte, Kanonensalven der Freude, die den jubelnden Menschen in den Siegesländern verkünden sollten der größte Krieg der Weltgeschichte ist vorüber.

Ist er vorüber?

Der Krieg wohl, aber der Friede ist noch nicht erreicht. Der muss jetzt erst erarbeitet, muss errichtet werden. Das wird Zeit in Anspruch nehmen, wird noch viele Leben, viel Menschenglück kosten. Wenn es aber gelingt, dieser Kriegsbeendigung auch die Friedenserrichtung folgen zu lassen, dann werden die Kanonendonner von Paris und London und Rom nicht nur das Ende des größten Kriegs der Weltgeschichte, sondern auch den letzten Krieg angekündigt haben.

Wir können das heute noch nicht behaupten, aber mit einiger Begründung können wir die Hoffnung aussprechen, dass diese Katastrophe die letzte ihrer Art war, die die Menschheit heimgesucht hat. Nicht das fürder kein Gewehr mehr losgehen, nie mehr Gewalt geübt werden dürfte. Aber dass Gewalt geübt werde aus dem Willen eines einzelnen Staates heraus als berechtigt erscheinendes Mittel seiner Politik, Gewalt an Stelle eines die Völker beherrschenden Rechtes, anarchische Gewalt also, das dürfte nie mehr Vorkommen im Leben der Menschheit. Aber nur das ist Krieg. — Jede Gewaltanwendung Staaten gegenüber ist fortab eine allgemeine Sache der Menschheit, die Gewalt üben wird nach vorhergegangener Erwägung, auf Beschluss hin, in Ausführung und zur Durchführung eines die Staaten fortab beherrschenden Rechtes. — Das wird, wenn es jemals überhaupt dazu kommen sollte, wenn nicht die bloße Drohung solch mächtigen Willens, jede Auflehnung gegen die gesetzte Ordnung unmöglich machen wird, in keinem Fall mehr Krieg sein. Ebensowenig Krieg, wie die Funktionen der gesetzlichen Exekutive im Staat Krieg gegen den Bürger bedeuten, der das Recht gebrochen.

Die Freudensalven der Sieger tönen über ein Riesengrab, in das so viel, so unendlich viel versenkt wurde, das der lebenden Generation teuer war. Menschen, junge lebensberechtigte Menschen, haben wir zu Millionen in dieses Grab gelegt, Hoffnungen, die nicht minder berechtigt waren, Lebensglück, Gesundheit, Arbeit und Arbeitswerte, Denkmäler, Wohnstätten, Menschheitsbeziehungen, lieb gewordene Gewohnheiten und Einrichtungen, Vertrauen, Freundschaft, Wohlstand, alles, alles liegt in der großen Gruft, vor der wir Zeitgenossen stehen. Ein Morast von Blut und Hass, von Entmenschung, Verbrechen, Armut, Krankheit, Not, Verzweiflung, hat sich über die Erde gezogen. Wenn dieser große Mord nicht auch eine alte, schon längst todesfällige Menschheitsperiode mit sich in die Erde gezogen hätte, dann würde das Weiterleben für die unglücklichen überlebenden kaum mehr erträglich sein. Aber er tat es. In dieser Riesengruft, vor der wir stehen, liegt auch die alte Zeit mit ihren vergifteten Ideen und ihrem verpesteten Odem, und ein neuer Abschnitt der Menschheitsgeschichte beginnt an diesem Grab.

Wir, wir Lebenden, wir Zeitgenossen, haben viel verloren. Aber die Menschheit, Die, die nach uns kommen werden, sie werden gewonnen haben. Aus all diesem Elend, das uns umfasst, leuchten Lichtschimmer hervor, die uns die Sicherheit geben, dass jenseits dieses Grabes wieder Leben sein wird, neues Leben, besseres und glücklicheres Leben, als jenes war, das wir gesehen haben.

Mit all dem Kostbaren, das wir verloren, ist auch von den Hemmnissen viel versunken, die bis jetzt die Entwicklung zu hohem Daseinsformen gehindert haben.

Versunken ist die frevelhafte Idee vom Nutzen des Kriegs, vom Wert des Schlachtensieges. Auch die Sieger in diesem Ringen sind wirtschaftlich erschlagen, haben Lasten und Folgen zu tragen, die den Sieg mit Trauergeweben umflort erscheinen lassen. Versunken sind die großen Militärautokratien Europas, die Herrschaft der Romanows, der Habsburger, der Hohenzollern, des Halbmonds, die den Krieg zu einer Art Religion erhoben haben und einen Fetischdienst mit Blut und Eisen trieben. Versunken ist mit ihrer Herrschaft das Obrigkeitsregime im Staat, die Privilegien einiger auserwählter Gruppen, der «Banditismus», das ist das Ausbeutesystem einer Minderheit zu Ungunsten und zum Unheil der in Fesseln schmachtenden Mehrheit. Versunken ins Grab der Militarismus, jene Knechtung der Menschheit durch vorsintflutliche Ideen, jene Ausnützung aller Vorteile der Kultur statt zu Zwecken der Verbesserung und Verschönerung des Daseins der Masse, zu deren Knechtung und Unterdrückung, was Alexander Herzen einst so treffend als «Dschingis Khan mit Telegraphen» bezeichnete.

Wir dürfen also auf den Beginn eines neuen Abschnittes der Menschheitsgeschichte hoffen. Eine Menschheit, die befreit sein wird von jenen furchtbaren Hemmnissen, die unsere Entwicklung, unser Glück gelähmt haben, wird auferstehen. Jene Verbrecher, jene verbrecherischen Institutionen, die uns dieses Riesengrab geschaffen, an dem wir trauernd stehen, haben sich selbst hineinlegen müssen. Für sie gibt es keine Auferstehung mehr. Es beginnt eine neue Welt. Wir dürfen hoffen. Eine neue Welt, die nicht mehr durch Krieg gemodelt wird. Die überlebende Generation weiß heute, was ein Krieg ist, die nachfolgenden Generationen werden es noch wissen. Ihre Betörung durch gewissenlose Quacksalber wird kaum mehr möglich sein. Man weiß jetzt, dass jeder Krieg vermieden werden kann, wenn nicht die Ruhmgier beschäftigungsloser Militärs den Zeitraum, innerhalb dessen sich die Vernunft betätigen kann, so beschränkt, dass die Unvernunft obsiegt. Nur Phrase und Schaumschlägerei machte es möglich, dass zu der Anwendung der furchtbarsten Gewaltwaffen geschritten wurde, ehe noch alle Möglichkeiten der vernünftigen Schlichtung versucht waren. Man weiß heute auch, dass der Krieg nicht mehr ein Unternehmen ist, das fern von den Stätten der Heimat betrieben wird. Einerlei, ob der Feind im Land steht oder ob die eigenen Truppen im Feindesland stehen, den Krieg führt nicht mehr allein der Soldat, ihn führt der Bürger ebenso, ihn erleiden die Frauen, ja sogar die Kinder. Und auch diese unbewaffneten Wehrlosen sind zu Hunderttausenden gefallen, sie werden, wenn noch einmal dieser Wahnsinn unternommen werden sollte, mit der zu erwartenden Verbesserung der chemischen Tötenmittel zu Millionen fallen. Ein nächster Krieg wäre die Vernichtung aller Kultur, aller Städte, aller das Leben haltenden Einrichtungen.

Diese Einsichten werden nicht vergehen mit dem Leben derer, die den Weltkrieg geschaut. Sie werden fest verankert bleiben im Bewusstsein der Menschheit für alle Zeiten. Und dieses Bewusstsein wird der eine mögliche Weg der Wiedergutmachung, der Erlösung sein, der Weg zur Organisation der Menschheit, zur Anpassung und zum Ausgleich, zur Selbstbekenntnis, die allein eine Selbsterhöhung und eine Erweiterung des Lebens des Einzelnen garantiert.

Die Erkenntnis, die vor dem Krieg von einigen Weitschauenden gepredigt wurde, deren Stimmen aber unter dem Hohngelächter der Kriegsinteressenten (es gab auch schon vor dem Krieg Kriegsgewinner) erstickt wurden, ist jetzt mit Stahl und Blei in das Bewusstsein der Zeit eingehämmert worden und kann daraus niemals verschwinden. Hier winkt die Erlösung. Nicht nur für den gefesselten Besiegten, auch für die armen blutenden Sieger, die ja nicht minder gefesselt sind.

Beseelt von dieser Erkenntnis, geschärft durch die gemachte Erfahrung, befreit von den Hemmnissen der alten Zeit, wird die Menschheit jetzt daran gehen können, den Frieden zu errichten. Er wird erarbeitet werden müssen in langer, schwerer Arbeit. Sie wird beginnen mit der großen Schuttwegräumung und mit der Reinigung der verpesteten Luft. Aber alle diese Schwierigkeiten werden überwunden werden, denn von Tag zu Tag wird es der Menschheit klarer werden, dass ihre Rettung nur darin liegt, daß sie das große Werk der Weltorganisation vollendet, das allein das Werk ihrer Gesundung, ihrer Befreiung sein kann.

Wir stehen heute noch an einem Grabe. Aber bereits lockt zu neuen Ufern uns ein neuer Tag.