Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Locarno, 14. April.

Die Offensive im Westen geht weiter. Die deutschen Armeen schreiten unaufhörlich vorwärts. Jetzt rührt es sich oben. La Bassee, Armentieres wurden genommen, die Lys an einigen Stellen überschritten, das Bombardement auf Paris wird fortgesetzt. Es scheint, dass die Entente nicht die Kraft besitzt, den deutschen Vormarsch aufzuhalten, und dass es langsam aber stetig, unter unerhörten Blutopfern zwar, den Deutschen gelingen wird, ihre Ziele Calais und Paris zu erreichen. Was dann? Welches Unglück für das Volk, das ihm solche Siege bescheert werden, die ihn zum meist gehassten Ausbund der Menschheit machen müssen, die ihm den Zwang auferlegen, durch immer weitergehende, immer blutigere, immer unerträglicher werdende Gewalttaten sich in der Welt zu behaupten und so dem Untergang zuzutreiben, der jedem Gewalttäter, jedem Gewaltvolk, früher oder später zuteil wird. Einst, in einer Rede, in der er von der «öden Weltherrschaft» sprach, hat Kaiser Wilhelm diese Gefahr erkannt und gekennzeichnet, und als abschreckendes Beispiel wies er auf die Weltreiche hin, die sich in der Geschichte gebildet hatten, und er stellte die Frage: was aus ihnen geworden ist. Solchem Unheil steuert das deutsche Volk jetzt durch seine Siege im Westen zu, die es von der ersehnten Sicherheit und dem ersehnten Frieden immer mehr entfernen.

Wie diese Siege vernichtend auf den herrschenden Geist im Land einwirken, kann man mit Schrecken wahrnehmen. Es schwillt der Kamm, die Masken fallen, und die Friedensheuchelei, die man ausreifen lieb solange der Osten und Süden sich noch bedrohlich zeigten, verrinnt mit jedem Tag mehr. Eine nach der andern von den Stützen der Reichstagsresolution des 19. Juli bröckelt ab, von jener Reichstagsresolution, die man uns als den unzweideutig ausgesprochenen Willen des deutschen Volkes hingestellt hat, an den zu zweifeln als Unverschämtheit galt, als eine dem deutschen Volk angetane Beleidigung. Weil die Ententestaaten diese Resolution nicht als vollwertige Münze anzusehen wagten, hat man ihr den bösen Willen zur Kriegsfortsetzung daraus nach zuweisen gesucht. Und jetzt? Die Freisinnigen und die Zentrumsleute, einer nach dem andern treten sie auf und bekehren sich angesichts der Siegeskonjunktur zu dem Gegenteil dessen, was sie im Sommer des Vorjahrs mit dem Brustton der Überzeugung salbungsvoll verkündet haben. Und das preußische Herrenhaus klatscht ihnen Beifall. Oh, das preußische Herrenhaus! Will man wissen, was für einem politischen Leben uns die Siege in Ost und West entgegenfürhten, so braucht man nur die Geistesrichtung zu befrachten, die aus den letzten Verhandlungen der preußischen ersten Kammer hervorleuchted. Die offenen Bekenntnisse zur Gewaltpolitik fanden den Beifall der übergroßen Mehrheit jenes Hauses und der Regierung. Es ging gegen Polen. Nachdem der Osten vom Eismeer bis zum schwarzen Meer durch die Gewalt unterjocht wurde, so stach den Herren von Preußen das «befreite» Polen in die Augen. Ganz logisch ist es von ihnen, in dem künftigen Polenstaat einen Feind jenes Geistes zu sehen, der sich anschickt, in Preußen und damit in Deutschland zur Herrschaft zu gelangen. Wer wird nicht der Feind jenes Geistes sein? Aber deshalb will man das eben «befreite» Polen verknechten. Es sollen ihm Gebiete abgenommen werden mit «Millionen Einwohnern» und der Rest soll durch Auferlegung einer Kontribution erschlagen werden. Die Kontribution nennt man Beteiligung an den Kriegslasten des Reichs und die Annexionen nennt man, nach dem landesüblich gewordenen Heuchellexikon, «militärische Sicherungen». Also eine neue Teilung Polens! Und das sind die Grundlagen jener Zukunft, für die das deutsche Volk jetzt blutet und zahlt!

Und wie es blutet! Grauenvoll wieder, die deutschen Zeitungen in die Hand zu nehmen mit den spaltenlangen Todesanzeigen der im Westen gefallenen Jugend. Es sind die Kinder, die bei Ausbruch des Kriegs noch mit kurzen Hosen in den Schulbänken saßen, die jetzt 19- oder 20-jährig hingemäht werden für die Kriegsentschädigung, für die Gruben von Briey und Longwy, für das Phantom der belgischen Küste, für die Erhaltung der europäischen Todeskrankheit von 1871, des Idols der beiden Provinzen. Zu Haufen, nein zu Bergen liegt Menschheit aufgestapelt, Familienglück zertreten auf dem Boden der Picardie, und, den Wahnwitz mit bengalischem Feuer beleuchtend, wirkt die Erörterung, die die Lichnowsky-Enthüllungen angefacht haben. Dass die Verständigung mit England möglich war, dass die dem deutschen Volk als Verbrecher hingestellt englischen Staatsmänner Asquith und Grey Ehrenmänner sind, die den Frieden wollten, tritt immer deutlicher zutage und damit die Klarheit, dass verschrobene, liebedienerische engbehirnte Zwerge die Entgleisung der Welt gleichsam aus Amtsdisziplin und Höflichkeit gegen die Träger des militärischen Geistes und die nach Ruhm, Betätigung und Profit Hungernden herbeigeführt haben, in der ahnungslosen Befangenheit, es könne nicht allzu schlimm werden, und man werde sich durch Grimmassen bluffen lassen.

In solchen Händen lag das Geschick von Millionen. Den Tod eines einzigen Jünglings, dessen Aufzucht Sorge gebracht, auf dem Gewissen zu haben, wäre Grund genug, mit diesem System zu brechen, das Menschheitsgeschick in die Hände ob ihrer Intelligenz Ungeprüfter legt; wie erst muss der Millionenmord, die Weltverarmung und Weltverseuchung dieses System zertrümmern! Alles vergiftet! Alles benebelt! Alles im Wahn! Der Totentanz Deutschlands ist nicht mehr aufzuhalten.