Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 25. Dezember.

Ich glaube, auch wir haben «die Sentimentalitäten verlernt». Der Gefühlsdruck des Vorjahres, der sich am Weihnachtsabend bis zur Unerträglichkeit gesteigert hatte, machte sich in diesem Jahr nicht mehr so geltend. Nicht dass ich auf das Leid vergessen hätte, das — hundertfach vermehrt — die Welt draussen erfüllt, nicht dass ich vergessen hätte, meine Gedanken hinauszusenden zu den Verwaisten, zu den Witwen, zu den ihrer Söhne beraubten Eltern, zu den Gefangenen in den Wildnissen Sibiriens und an andern Stätten, zu den in Konzentrationslagern Verdammten, zu den Truppen an der Front, den Verwundeten und Kranken in den Spitälern, zu den Krüppeln und Flüchtigen und zu den im Reichtum schwimmenden Nutzniessern des Ruins. An Alle habe ich gedacht, als die Lichter am Tannenbaum erglänzten und der altgewohnte Naivitätsrückfall wieder einmal dazu herhalten musste, uns den allzuharten Greifbarkeiten der Gegenwart zu entrücken. Nur härter bin ich geworden. Man nennt es die Gewöhnung an den Krieg. Das scheint mir nicht zutreffend. Das Gefühl der Auflehnung gegen das Erlebte, der heilige Zorn gegen die Urheberschaft dieser Menschheitsschändung, das Pflichtbewusstsein den Aufgaben des grossen Zukunftskampfes gegenüber, dies alles hat die Nerven gestählt, das Gemüt verhärtet, die kranke Seele durch Trotz gestärkt und liess mich «die Sentimentalitäten verlernen». Und die Verse Konrad Ferdinand Meyers, die er uns vor 24 Jahren als Einleitungsworte für das erste Heft unserer Revue «Die Waffen nieder!» schrieb, kamen mir im richtigen Moment wieder unter die Augen:

«Etwas wie Gerechtigkeit
Webt und wirkt in Mord und Grauen,
Und ein Reich will sich erbauen,
Das den Frieden sucht der Erde. —
Mählich wird es sich gestalten.
Seines heil’gen Amtes walten,
Waffen schmieden ohne Fährde,
Flammenschwerter für das Recht,
Und ein königlich Geschlecht
Wird erblüh’n mit starken Söhnen,
Dessen helle Tuben dröhnen:
Friede, Friede auf der Erde!»