Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 16. März.

Alle Hoffnungen auf ein Zeitalter der Vernunft, das nach diesem Krieg anbrechen werde, sind verflogen. Ich kenne keinen, der noch zu hoffen wagt. Allenthalben entsteht der Glaube an das Wunder, das sich ereignen müsste, um eine künftige Weltordnung zu erringen. Wird es eintreffen? — Wie sich die Dinge jetzt entwickeln, mit diesem Triumph der Alldeutschen und der Militärdenker, mit diesem Frieden der Unverständigen im Osten glaube ich nicht mehr an ein Ende des Kriegs im Rahmen des Lebens der heute in der Reife stehenden Generation. Die napoleonischen Kriege haben 25 Jahre gedauert, die große Weltgährung, in die uns die Narren und Verbrecher hineingebracht haben, kann ebenso lang, kann länger, kann noch ein halbes Jahrhundert dauern. Der Säbelfrieden im Osten stürzt alle Grundlagen für den Sicherheitsfrieden um. Er wird erst beseitigt werden müssen, und das kann lange währen. Mittlerweile setzt sich Deutschland in den Randstaaten fest. Deutsche und österreichische Truppen sind in Odessa eingezogen. In Odessa! Warum? Odessa gehört zur Ukraine, mit der wir in Frieden leben. Aber man liest, dass tausend deutsche Offiziere in Kiew angekommen sein sollen und eine ganze Armee von Bahnbeamten, Polizisten und sonstigen Beamten. Der sagenhafte Staat wird organisiert, wird zur preußisch-deutschen Domäne hergerichtet. Die Ritterschaft aus den baltischen Provinzen macht sich auf, um den neuen Herren zu huldigen, und um Anschluß an das Reich zu bitten. Und bis hinauf zu den Eismeerküsten Finnlands erstreckt sich das deutsche Operationsgebiet.

Das sind Ereignisse, die mit den Huldigungen der deutschen Regierung für einen annexionslosen und auf Selbstbestimmungsrecht der Völker beruhenden Frieden schwer in Einklang zu bringen sind. Aber den Juristen wird es nicht schwer werden, eine Übereinstimmung zu kombinieren, namentlich mit dem ehrlichen Michaeliswort: «Wie ich es auffasse.» Es ist kaum möglich, auszudenken, dass der Krieg mit diesem Schwerttriumph endige. Er wird also noch lange fortgehen, noch mehr Blut kosten, noch mehr Vergangenheit und Zukunft vernichten, noch mehr Elend erzeugen und verewigen.

Aber die Militärs sind zufrieden, Hindenburg und Ludendorff haben sich bei ihrem jüngsten Aufenthalt in Berlin über die Lage geäußert. Hindenburg sagte:

«Man wirft uns vor, dass wir im Osten als Gewaltmenschen aufgetreten sind. Aber der Krieg ist keine weiche Sache.»

Gewiss nicht! Aber wieso schmäht man dann die Gewalt der anderen, warum sieht man nicht ein, dass auch sie den Krieg nicht mit Glacehandschuhen führen können. Nur irrt der Marschall. Das Auftreten im Osten galt nicht dem Krieg, sondern dem Friedensschluss. Da hätte man anders auftreten müssen, wenn man einen wirklichen Frieden gewollt hätte. Nun schuf man sich «Grenzsicherungen» durch Wegnahme von Ländern eines anderen Staates mit überwiegend fremdländischer Bevölkerung, die man ehrlich nie befragen will. Was für prekäre Sicherungen sind das! So schützt man ein Haus mit Benzinbehältern vor Feuersgefahr. Und Ludendorff kündigte an, dass jetzt an dem Angriff in Westen gedacht werden kann. Wir anderen denken fortwährend daran, wie er vermieden werden könnte. Aber wie kann diese Millionenschlacht vermieden werden, wenn im Osten der Säbel triumphiert?

Hindenburgs Wort, dass der Krieg keine weiche Sache ist, bedenken die Schreiber nicht, die sich jetzt in Deutschland über das seitens der Entente an Holland gerichtete Ultimatum wegen Herausgabe der gesamten Handelsflotte entrüsten. Dieses Ultimatum ist ein ungeheurer Gewaltakt, ein unerhörter und verwerflicher. Doch wer Butter am Kopf hat, soll nicht in die Sonne gehen. In einem Krieg, der mit den Worten «Not kennt kein Gebot» begann, der den Niederbruch des garantierten Belgiens gebracht hat, der Luftkrieg und Unterseebootkrieg zeitigte und der uns das Friedensultimatum von Brest-Litowsk (binnen 48 Stunden — drei Tagen — zwei Wochen) erleben ließ, erfüllt uns der Gewaltakt gegen Holland mit Entseben, er überrascht uns aber nicht und erscheint uns kaum geeignet zu sittlichen Protesten, die uns nur der Lächerlichkeit preisgeben. Es sind nicht alle Menschen so zu Scherzen aufgelegt wie das amtliche Wiener Korrespondenzbureau, das unterm 15. März Folgendes in die Welt hinaustelegraphiert:

«Die Blätter (Wiens) drücken die tiefste Empörung über das Ultimatum der Entente an Holland aus. Die Macht des Stärkeren sei wohl niemals mit gleicher Roheit zum Ausdruck gekommen. »

Der Weise schweigt, aber er möchte brüllen vor Weh!