Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

6. Mai (Lugano) 1915.

Die Erregung dürfte während des Kriegs noch nie so stark gewesen sein, wie in diesen Tagen. Die Hauptursache dafür ist das geheimnisvolle Verhalten Italiens, das doch immer mehr und mehr einem gefährlichen Bluff gleicht. Die plötzliche Absage des Königs und der Minister von der Teilnahme an der Feier in Quarto weiss niemand zu deuten. Heisst es Frieden oder heisst es Krieg? Will die Regierung es vermeiden, auf die bestellte Aufforderung zum Krieg durch d’Annunzio antworten zu müssen, oder erscheint ihr die Situation so ernst, dass sie eine noch so kurze Abwesenheit von der Hauptstadt nicht für angebracht hält. Unzählige Gerüchte durchschwirren die Luft. Italien soll an Österreich-Ungarn ein Ultimatum gerichtet haben in Form der Angabe seiner Mindestforderungen. Deutschland soll einen mächtigen Druck auf Wien ausüben, damit es nachgebe und den verbündeten Kaiserreichen den feindlichen Bundesgenossen vom Leibe halte. Die Forderungen Italiens sollen unerhört sein. Man kann gespannt sein, wie weit es Deutschland gelungen sein wird, Österreich zum Nachgeben zu veranlassen. Später wird auf diesen Druck noch näher einzugehen sein. - - Wie zaghaft war doch der Druck der Reichsregierung bei der Übermittlung der englisch-russischen Ausgleichsvorschläge im serbischen Konflikt. Man sei «bis an die Grenze der Bundestragfähigkeit» gegangen, hiess es damals, man konnte Österreich nicht zumuten, sich einem «europäischen Schiedsgericht» zu unterwerfen (obwohl von Schiedsgericht gar nicht die Rede war, sondern nur von einer gemeinsamen Beratung über Vermittlungsmöglichkeiten). Und doch hätte ein solcher Einfluss seitens Deutschland Österreich keine Demütigung gebracht, er hätte aber den Krieg vermeidbar gemacht. Sollte jetzt der Einfluss der Reichsregierung es bewirken, dass Österreich-Ungarn Teile seines Gebiets abtritt? Wie seltsam! Sind hier die Grenzen der Bundestragfähigkeit nicht überschritten?

Die Spannung wird gesteigert durch die Vorstösse der verbündeten Armeen in Galizien, die die Russen zum Rückzug veranlassten, durch den Vorstoss in Flandern und in Russland, durch die Kämpfe an den Dardanellen, durch den plötzlichen Aufstand in Tripolis, der den Italienern mehrere hundert Tote gebracht hat und sie zwingt, eine verstärkte Expedition abzusenden. Gelten alle diese heftigen Offensiven nicht in erster Linie Italien? — Oder sind es Entscheidungen, wenigstens Einleitungen zu solchen? — Entscheidungen heissen Kämpfe, die es ermöglichen, an einen Friedensschluss zu denken.

Diese Zuspitzung der Situation geht mir furchtbar an die Nerven. Die fortwährenden ungeheuren Opfer in den Landschlachten, die versenkten Schiffe, die Fliegerbomben, die Vernichtungen haben einen Grad erreicht, der zum Wahnsinn oder zur Gleichgiltigkeit treibt. Es ist einfach nicht mehr auszuhalten. Ein Eisenbahnzusammenstoss ist etwas Fürchterliches, aber neun Monate hindurch ein fortgesetzter Eisenbahnzusammenstoss bei Tag und Nacht, das liegt jenseits der regsten Phantasie, jenseits der Tragfähigkeit unsrer Nerven.

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Da haben sich vom 28. bis 30. April im Haag beherzte Frauen aller Länder zusammen gefunden, um gegen den Krieg zu protestieren, um aufzuschreien gegen das wahnsinnige Übel. Man sollte meinen, das ist etwas, das heute alle Menschen interessieren muss. Ganz gleichgültig, welches Ergebnis man von dieser Versammlung erwartet, die Tatsache allein ist schon von Bedeutung, dass Menschen aller Nationen inmitten dieses Mordens den Willen bekunden, dass es anders werde und so nicht weiter gehen dürfe. Die Auflehnung der Frauen gegen die Vernichtung des Lebens ist eine weltgeschichtliche Tat. Dass es nur wenige sind, die da zusammenkamen, was will es besagen. Wenn alle Frauen der Welt von diesem Kongress wüssten, und wenn sie die Schwierigkeiten der Reise zu überwinden vermocht hätten, wären Millionen nach dem Haag gezogen. Es ist daher unangebracht, über das Zahlenverhältnis der Kongressteilnehmer zu spotten. Die Millionen stehen doch hinter den Hunderten, die erscheinen konnten. Dieser Kongress ist etwas äusserst Wichtiges. Aber bis heute hat noch keine deutsche Zeitung, soweit ich es übersehen konnte, ausführlich und sachlich darüber berichtet. Daran mögen vielleicht die ausserordentlichen Presseverhältnisse Schuld tragen. Vielleicht? — Aber wenn die sachlichen Berichte schon fehlen, ist es notwendig, den Kongress durch unsachliche und gehässige Notizen in der Öffentlichkeit in Verruf zu bringen? Das ist nun einmal die Methode einer gewissen Presse, alles was in der Richtung jener Kulturarbeit liegt, die sich gegen das Kriegssystem richtet, zu karikieren, zu verunglimpfen, zu besudeln, mit Geifer und Schleim zu bewerfen. Zwischenfälle, die auf dem Kongress selbst kaum bemerkt wurden, sind oft das Einzige, das über ein solches Ereignis gemeldet wird. Eine Teilnehmerin machte den Zwischenruf: «Fort mit den Armeen und Marinen!» Das wird ausführlich gemeldet. Sonst nichts. Und in den Köpfen der Leser malt sich ein Bild, in dessen Mittelpunkt dieser Zwischenruf steht und der Lärm, der sich darob erhob. Weiter nichts! Frau Cary Brachvogel findet es für notwendig, dem Kongress ein Bein zu stellen durch einen gehässigen Artikel in den «Münchener Neuesten Nachrichten (27. April), «Schwesterhände» betitelt. Sie nennt ihn einen «unzeitgemässen Aprilscherz» und rüffelt die achtzig deutschen Frauen, die sich nicht durch die Verachtung der im Sinne der «Münchener Neuesten Nachrichten» Denkenden zurückhalten liessen, nach dem Haag zu gehen, «um dort mit Angelsächsinnen, Russinnen und andern Damen mehr oder weniger feindlich gesinnten andern Völkern zusammen sitzen zu wollen, um Ratschläge zu geben, die kein Mensch von ihnen verlangt». — Der Bund deutscher Frauenvereine kann nicht laut genug verkünden, dass er mit dieser gottlosen Veranstaltung ja nichts zu tun habe. Gott sei’s geklagt! — Am widrigsten aber mutet ein Artikel im «Hamburger Fremdenblatt» an, der die nach dem Haag gehenden Frauen einfach beschimpft und sie als geschlechtslos bezeichnet.

Dies alles nur als Muster, wie man in Deutschland Kulturarbeit behandeln darf. Hier muss ein Wandel Platz greifen! Nach dem Krieg wird man diesen Leuten, die es wagen, die ehrlichste und aufrichtigste Kulturarbeit zu besudeln, ihren Witz daran zu üben, um dadurch liebedienerisch ihre «gute» Gesinnung zu bekunden, das Handwerk legen müssen. Und wenn es mit Fäusten und Stöcken geschehen soll. Der Entlausungsprozess wird auch hier mit aller Gewalt durchgeführt werden müssen.