Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

14. April (Lugano) 1915.

In seiner «Hilfe» (8. April) stellt Naumann ein wichtiges Axiom auf: Es kann kein unbedingtes Naturrecht oder Geschichtsrecht auf reine Nationalstaaten geben. — Die Bestrebungen der Rumänen, Polen, Südslaven sind es, die ihn zu dieser Erkenntnis führten. Diese Erkenntnis könnte, verallgemeinert, viel Blutvergiessen sparen. Das Nationalitätenprinzip ist die Quelle aller Kriege der letzten Jahrzehnte, auch des gegenwärtigen. Der Irrwahn, dass alle zerstreuten Nationensplitter zu einem Staate vereinigt werden müssen, hat die Menschen auf die Schlachtfelder getrieben. Sie laufen einem Phantasiegebilde nach. Das Wohl der Nation ist nicht abhängig von der Zusammenfügung aller Nationenteile zu einem Staate, sondern von der ihr zu teil werdenden Gerechtigkeit. Und diese ist nicht nur im einheitlichen Nationalstaat zu erlangen. Sie kann auch im gemischt-nationalen Staat gefunden werden. An Stelle des Nationalitätenprinzips müsste eben das Gerechtigkeitsprinzip treten, das der Menschheit mehr Vorteile, Sicherheit, mehr ideelle Befriedigung bringen würde, als das den Krieg fördernde Nationalitätenprinzip, das Europa in Blut getaucht hat.