Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 6. September.

Drei Stunden mit Annette Kolb. Dann Besuch von Frau D. und Tochter aus Paris. Gleichzeitig Prof. Zipernowsky und Frau. Dazwischen Graf M. Tenor der Unterhaltung: Und sehen, dass wir nicht helfen können! Das will uns schier das Herz verbrennen. Aber es lebt in allen der Wille zu helfen, getrieben von innerer Empörung.

Es besteht jetzt die Gefahr, dass der Entente der Kamm schwillt. Zum Frieden führt das nicht; denn Deutschland kann im Verzweiflungskampf um seine Existenz fürchterlich werden. So fürchterlich, dass, wenn dann Gleiches mit Gleichem vergolten werden soll, Europa zur Wüste, seine Menschen zu Menschenfressern oder Tieren herabgedrückt werden könnten. Es scheint keiner zu ahnen, welch wahnsinniges Spiel getrieben wird. Leider muss man alle Schuld für die Verlängerung des Kriegs auf jene blödsinnigen Elemente in Deutschland zurückführen, die noch immer von den weitgehendsten Annexionen sprechen und von einem Gewaltsieg träumen. Solange diese Anschauungen leben, wagen die Gegner nicht, an einen Frieden zu denken.

Deutschland würde sich nichts vergeben, wenn es offen Frieden verlangen wollte. Es könnte ehrlich darauf hinweisen, dass es die Macht besitze, sich noch sehr lange zu wehren und durch die lange Dauer seines Widerstands den Sieg der andern Gruppe illusorisch zu machen. Jetzt könnte es der Retter Europas sein. Die Stimmung des Volks würde einen solchen Schritt unterstützen. Nichts wäre dabei verloren, auch die Ehre nicht. Wer aber besitzt die Kraft, mit den letzten Resten des Mittelalters in Deutschland aufzuräumen? Der es vollbrächte, wäre der Held der deutschen Geschichte. Den begangenen Irrtum nicht mit allen seinen Folgen bis zu seinem Ende auswirken zu lassen, das Volk zu retten und seine Zukunft, wäre eine grössere Tat als die Reichsgründung war.

In deutschen amtlichen Kriegsberichten ist jetzt wiederholt von der «Festung» London die Rede, die mit Flugzeugbomben belegt wurde. Was bedeuten solche Entgleisungen? Vertrauen zu erwecken sind sie gerade nicht imstande. Was wird man sagen, wenn die Gegner morgen von der «Festung» Karlsruhe oder Hamburg sprechen werden, oder gar von der «Festung Deutschland». Durch die Luftbeherrschung ist der Begriff Festung zwar zerstört worden, deswegen ist es aber nicht gestattet, ihn beliebig anzuwenden. London ist ebensowenig eine Festung wie der Rhein ein Ozean ist.