Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

17. September 1914.

Die Schlacht im Westen «steht noch», wie der gestern veröffentlichte Bericht aus dem Hauptquartier meldet. Ihre Front reicht von Verdun bis Meaux bei Paris. Sie währt schon zehn Tage und deutscherseits konnte man nur von Teilerfolgen berichten. Der seelische Druck wird immer stärker, man weiss nicht, wie man es aushalten soll. Der Stillstand, der in Galizien eingetreten ist, gibt wieder den Nährboden für allerhand beunruhigende Gerüchte ab, die herumschwirren. Es gibt Leute, die sich in Wien nicht mehr sicher fühlen. Ob sie Recht oder Unrecht haben, ist einerlei. Es ist ein Charakteristikum der Zeit, in der wir leben. Leben ?— Das ist kaum der richtige Ausdruck. In Wahrheit ist unser Leben jetzt unterbrochen. Wir harren des Tages, wo es wieder aufgenommen werden kann.

Das kann noch lange dauern. Die deutsche Regierung lässt heute in der «Norddeutschen Allgemeinen Zeitung» offiziös dementieren, dass sie den Frieden sucht, wie behauptet wird. Kein Friedensbedürfnis! — Das Deutsche Reich ist nicht kampfesmüde! Zum Schluss: «Wir setzen diesem Gaukelspiel die Erklärung entgegen, dass unser deutsches Volk in dem ihm ruchlos aufgezwungenen Kampfe die Waffen nicht eher niederlegen wird, bis es die für seine Zukunft in der Welt erforderlichen Sicherheiten erstritten hat.» — Das ist eine blutige Aussicht, die hier eröffnet wird.

Und doch werden die Bestrebungen zur Herbeiführung einer Vermittlung von amerikanischer Seite auf das ernsteste betrieben. Der künftige amerikanische Botschafter für Frankreich, William Sharp, äussert sich darüber in einem Interview des «New York Herald»: Er glaubt, dass nach dem Krieg eine vollständige Umwälzung der öffentlichen Meinung aller Länder zugunsten des Friedens stattfinden werde und wünscht es, dass die Vereinigten Staaten an einem zukünftigen Vertrag Anteil hätten, der einen derartigen dauernden Frieden besiegle. Wie grauenhaft auch der gegenwärtige Weltbrand sein möge, so äussert er sich, so heilbringend werde sein Ende für alle Nationen werden, gleichviel wer Sieger bleibe. Sharp ist Pazifist und Vorstandsmitglied einer amerikanischen Friedensgesellschaft. Seine Anschauung ist das Ziel, das uns allen vorschwebt. Wirklicher Friede muss werden, zum erstenmal Friede. Doch bin ich mir der Schwierigkeiten zur Erreichung dieses Zieles voll bewusst. Es müssen erst alle jene Kräfte niedergebrochen werden, die die bisherige Anarchie stützten. Oh weh! Oh weh!

Einen Erfolg der pazifistischen Bewegung inmitten dieser Schreckenszeit will ich hier doch vermerken. Staatssekretär Bryan hat den amerikanischen Bankiers erklärt, dass Anleihen an irgendwelche kriegführende ausländische Nationen mit dem wahren Geist der Neutralität nicht zu vereinbaren seien. Das ist die Erfüllung des alten Postulats der Friedensbewegung, das zuerst auf dem Pariser Friedenskongress von 1849 aufgestellt, in Frankfurt a. M. 1850, London 1851, Bern 1892, Antwerpen 1894, Luzern 1905 und zuletzt München 1907 erneuert wurde. Hergabe von Kriegsanleihen ist Neutralitätsbruch. Die europäischen Staaten haben sich bisher wenig darum gekümmert. Jetzt geschieht es zum erstenmal, dass ein neutraler Staat diesem Neutralitätsbruch steuert. Wieder ist es Amerika, das mit dieser grossen Neuerung für die Friedenssicherung vorangeht.