Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 27. Januar.

Ein Briefstoss mit verschieden gearteten Äusserungen: Aus Leipzig: «Dr. Frieds Hefte sind unser Trost und Stab in dieser schweren Zeit ...» Aus Wiesbaden: «Ich habe mich gleich auf das Tagebuch gestürzt. Es war mir als ob Alles, worüber ich in den letzten Wochen gegrübelt habe, und was mich bedrückt hat, auf einmal in Worten vor mir ausgesprochen wurde». Aus Jena: «Ich stimme mit Ihren Anschauungen absolut nicht überein, sondern halte sie für geradezu verderblich. Sie leben in einer Welt des Traums und sind blind für die wirklichen Verhältnisse dieser Welt. Nur ein Phantast kann glauben, dass sich Kriege durch internationale Abmachungen beseitigen lassen. Der Schwache muss sich mit Füssen treten lassen. (Beispiele Griechenland, und im geringeren Maße die Schweiz). Also suche jeder Staat sich so stark wie möglich zu machen».

Das Letzterwähnte schrieb ein Universitätsprofessor. Ihm wird niemals vor seiner Logik bange werden. Aber uns! Aber den Toten, den Krüppeln, den Vermissten! Wenn sich der Schwache mit Füssen treten lassen muss, so kann ihn nur die Macht des Rechts vor diesem Los retten. Wir liefern uns ans Messer, wenn wir bei jener Theorie bleiben. Denn jeder Starke findet einmal seinen Stärkern. Möge sich nie zeigen, wie «verderblich» dieses Jenenser Professors Anschauungen sind.

Aus Paris: Von einem früheren Mitkämpfer. «Leider, mein armer Freund, geben Sie sich (in meinem Artikel in der «Neuen Zürcher Zeitung» vom 13. Januar) einem doppelten Irrtum hin. 1. Muss es Besiegte geben — die Kaiserreiche. 2. Sie werden besiegt werden ... Wir werden uns mit keinen Konzessionen begnügen. La séance continue. Die Kaiserreiche werden schwächer, während die Alliierten stärker werden, wie vorauszusehen war. Und die, die sie Jusqu’auboutisten’ nennen ... werden mit kalter Entschlossenheit standhalten. Sie werden — koste es was es wolle — siegen und den übrigbleibenden Rest Europas auf der Grundlage der Freiheit neu organisieren». — Es wird sich kaum mehr lohnen. Weder ein Europa noch Europäer werden dann mehr da sein.

Dann wird mir von einer Rede berichtet, die kürzlich Graf Reventlow vor einem zahlreichen Hörerkreis hielt. Er trat für weitgehende Annexionen besonders im Westen ein und forderte das Gleichgewicht zur See mit England. Hätten wir zwölf Panzerschiffe mehr gehabt, stünden wir jetzt anders da. — Deshalb direkt nach Friedensschluss verstärktes Rüsten zu Lande und zur See! für einen schätzungsweise in etwa zehn Jahren kommenden neuen Krieg. Man sieht, der Gewaltwahn will sich ausleben, unter dem Schutz des Burgfriedens noch seine Kapriolen schlagen. Er fühlt das Ende seiner Zeit. Wenn erst dieser Krieg überwunden ist, wird sein Lebenslicht ausgeblasen sein. Nachher wird es keiner mehr wagen, den Mord zu predigen, ohne es am eigenen Leibe zu fühlen zu bekommen. Die Welt wird vernünftiger sein hernach, und das Zeitalter der Reventlows wird für immer vorüber sein.