Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 10. November

Die Parole der Verbündeten, dass sich ihr Kampf hauptsächlich gegen den deutschen Militarismus richte, hat in Deutschland Anlass gegeben, sich damit zu befassen, was «Militarismus» eigentlich sei.

Der Protest der 93 deutschen Intellektuellen, die in ihrem vaterländischen Eifer soweit gehen, den deutschen Militarismus einfach mit der deutschen Kultur zu identifizieren, geht den Dingen nicht auf den Grund. Es ist Unsinn, zu sagen: «Ohne den deutschen Militarismus wäre die deutsche Kultur längst vom Erdboden getilgt.» Hier liegt eine Verwechslung von Heereswesen und Militarismus vor.

Näher kommt der Sache eine von einem General der Infanterie im «Tag» veröffentlichte Zuschrift folgenden Inhalts: «In Nummer 250 des «Tag» findet sich ein Artikel über Militarismus, der unter anderem erklärt, das Wort bedeute Kriegswesen. Damit wird dem Worte gewissermassen ein anständiger Platz unter den Fachausdrücken zugewissen. Diese Erklärung ist nicht zutreffend. Das Wort ,Militarismus’ ist ein Schmähwort, das sich gegen alles Militärische richtet und bedeutet so wenig Kriegswesen, wie ein anderes Schmähwort ,Soldateska’ etwa Heer bedeutet. Das Wort ,Militarismus’ ist von der roten Internationale wenn nicht erfunden, so doch am meisten gebraucht. Im engeren etwas besseren Sinne wird damit wohl eine Kriegsorganisation gemeint, durch deren Einfluss die bürgerliche Freiheit beeinträchtigt und der Kulturfortschritt gehemmt wird. So gebrauchen es jetzt die verlogenen Briten gegen uns. Wir müssen es weit von uns weisen, dass es überhaupt in Deutschland einen Militarismus gibt, oder je gegeben hat. Wir haben ein volkstümliches Heerwesen und ein Volksheer.»

Aber auch damit scheint der Inhalt des Begriffes Militarismus noch nicht voll erschöpft zu sein. Ich glaube, dass das Heerwesen und die Kriegsorganisation dabei nur in zweiter Linie in Betracht kommen. Militarismus bezieht sich gar nicht auf das Militär, sondern auf eine Geistesrichtung, die sich allerdings vorwiegend auf militärische Kraft stützt. Aber die Geistesrichtung ist dabei die Hauptsache. Es scheint mir der Militarismus lediglich in dem Widerspruch zu liegen, der von den Anschauungen des isolierten auf Selbstbehauptung beruhenden Staates ausgeht, und dessen Politik mit den die Welt heute beherrschenden Tendenzen der Zusammenarbeit und gegenseitigen Abhängigkeit nicht in Einklang zu bringen ist. Es ist Harmoniestörung durch Anwendung solcher politischer Methoden, die dem Neuen in der Entwicklung nicht mehr entsprechen. Die neue Welt hat nun einmal den isolierten Staat überwunden, kann durch ihn ihre höheren und vielfältigen Aufgaben nicht mehr erfüllen, und ein Staat, der die für die Zusammenarbeit Aller erforderlichen Methoden verwirft, muss notwendigerweise dem andern als Gegner erscheinen. Das ist der Sinn des Vorwurfs militaristischen Gebahrens, den heute so viele Völker Deutschland gegenüber erheben.

Natürlich wird dies in Deutschland, namentlich in der jetzigen Zeit höchster nationaler Spannung, nicht nur als ein unberechtigter, sondern gar als feindseliger Vorwurf angesehen. Es ist auch jetzt nicht der Zeitpunkt, sich darüber international auseinanderzusetzen. Aber als Volksgenosse zu Volksgenossen sprechend, kann darauf hingewiesen werden, dass in dieser Beziehung Deutschlands Haltung nicht einwandfrei war. Man kann das um so eher sagen, wenn man hinzufügt, dass das deutsche Volk nur unter dem Zwang geschichtlicher Notwendigkeiten zu jener Haltung gelangte, so dass seine Politik, so widerspruchsvoll sie auch den Zeittendenzen gegenüber erscheinen mochte, nicht anders geführt werden konnte. Es ist immer wieder jener unselige Krieg von dreissig Jahren, jene unselige deutsche Zerrissenheit, die die Entwicklung Deutschlands gehemmt hat, und es den andern europäischen Kulturvölkern nachhinken liess. So musste sich Deutschland den früher entwickelten Staatswesen gegenüber zur Einheit und zum Anteil an der Weltpolitik mit Gewalt durchsetzen. Und bei solcher Durchsetzung konnte sich natürlich jenes Gefühl des Vertrauens und das Bewusstsein anerkannter Gleichberechtigung seitens der andern führenden Kullurstaaten des Kontinents, das die Grundlage für eine Politik der Kooperation abgegeben hätte, nicht sofort einstellen. Als Eindringling betrachtet, weil es eben später zur Aktion gelangte, dadurch immer wieder auf sich selbst und seine Kraft zurückgewiesen, um sich zu behaupten, vermochte Deutschland nicht in die plötzlich notwendig gewordene europäische Organisationspolitik einzutreten. Daraus ergab sich naturnotwendig eine Zuspitzung des Verhältnisses zwischen Deutschland und den andern Staaten. Deutschland hielt sich misstrauisch von jener Zusammenarbeit zurück; es widersetzte sich allen Bestrebungen für zwischenstaatliche Organisation, internationale Zusammenarbeit und Ausbau des internationalen Rechts. Es wurde durch dieses Misstrauen zur Fortsetzung einer isolierten Machtpolitik geführt und entwickelte die Einrichtungen seiner Wehrkraft in denkbar höchstem, noch nie gesehenem Masse. (Von dieser Wirkung rührt die Bezeichnung «Militarismus» her, die, wie erwähnt, der Ursache nicht gerecht wird.) Die andern Staaten, die von der Geschichte in ihrer Entwicklung nicht so sehr gehemmt wurden, und ohne dieses Hemmnis die neuen Erfordernisse der Weltpolitik auf dem einfacheren, kraftsparenderen und dabei ertragreicheren Weg der Organisation und Kooperation betreiben wollten, erblickten in dieser Zurückhaltung Deutschlands, auf deren geschichtliche Begründung sie gar nicht näher eingingen, eine bösartig gewollte Störung ihrer Interessen. Sie konnten die von der Organisation und Kooperation erwartete höhere Sicherung durch geringeren Kraftaufwand und dadurch reicheren Fruchtgenuss nicht erreichen, so lange eine grosse Macht in Europa sich davon ausschloss, und seine Politik auf eine sich fortwährend steigernde Machtentfaltung aufbaute, die alle andern mitriss und sie zwang, ihre Kräfte auszugeben, wo sie sie schonen wollten.

Aus diesem historisch begründeten Gegensatz ergab sich nun jene Erscheinung, die unter der Bezeichnung «Einkreisung» bekannt ist, und die so grossen Einfluss auf die weitere Entwicklung der europäischen Verhältnisse genommen hat.

Von seiten der Aussenmächte, war jene, in Deutschland «Einkreisung» bezeichnete, Erscheinung nur das natürliche Streben, zu einer Harmonisierung der für eine Organisationspolitik in Europa notwendigen Kraft zu gelangen. Da es mit Deutschland nicht ging, sollte es ohne Deutschland gehen, in der Hoffnung, dass eines Tages auch das verspätete Deutschland seinen Anschluss an diesem Organisationsverband finden werde. Diese Tendenz war, wenn man sich auf einen objektiven Standpunkt stellt, die Dinge in ihrem historischen Werden ins Auge fasst und die Notwendigkeit der Organisationspolitik begreift, in ihrer Absicht nicht gegen Deutschland gerichtet. Man wollte Deutschland nicht «einkreisen» sondern sah mit Bedauern, dass es sich selbst «auskreiste». — Aber von ebendemselben objektiven Standpunkt aus gesehen, wird man zugeben müssen, dass das im harten Kampfe mit den im Entwicklungswege vorangegangenen Mächten sich durchsetzende, auf sich und seine Kraft allein vertrauende, begreifliches Misstrauen empfindende Deutschland, das die Tendenzen der noch jungen plötzlich in die Erscheinung gesprungenen Organisationspolitik noch nicht zu erkennen und noch weniger anzuerkennen vermochte, in der oben geschilderten Tendenz der sich unter Ausschluss Deutschlands zur Kooperation vereinigenden Mächte, eine gegen sich gerichtete feindliche Haltung, eine bösartig ersonnene Einkreisung und Erwürgung erblickte. Die Auffassung war sicher nicht richtig; denn Deutschland wäre jederzeit in der Lage gewesen, in jenen sich bildenden Kreis mit einzutreten und die Gefahr wäre damit geschwunden. Aber historisch erkannt, muss man es begreiflich finden, wenn in Deutschland die Voraussetzung für jene einfache Schlichtung, das Vertrauen, gefehlt hat. Deutschland blieb draussen, spannte seine Kraft aufs höchste an, und das Ergebnis sehen wir jetzt blutigrot durch Europa wüten: den Weltkrieg.

Und in diesem fürchterlichen Krieg sehen wir, durch die Leidenschaft verstärkt, deutlich jene Kräfte wirken, die ihn hervorgebracht haben. Auf der einen Seite Deutschland mit seinem Bundesgenossen, das sich glaubt, durch eine Welt es beneidender, ihm Licht und Raum nicht gönnender Feinde «durchhauen» zu müssen, das sich in einem Existenzkampf verwickelt fühlt, in dem es Rücksichten nicht glaubt üben zu dürfen, auf der andern Seite stehen die andern Mächte, die in Deutschland das Hindernis für die internationale Entwicklung zu sehen glauben und deshalb in dessen Bekämpfung und Niederringung die Hebung des Weltfortschrittes, der internationalen Organisation, die Erhöhung des Rechtes, die Beseitigung der Gewaltvorherrschaft erblicken.

Diese kleine geschichtliche Disharmonie, dieses einfache Zuspätkommen um ein Jahrhundert seitens Deutschlands und die Nichtbeachtung dieser Tatsache seitens der andern Mächte hat diesen Krieg gezeitigt.

Man ist in der Ursachenforschung sehr weit zurückgegangen, man hat den Ansporn im Frankfurter Frieden, in Bismarck, im Wiener Frieden, in Napoleon gesehen. Ich glaube, die Voraussetzung des gegenwärtigen Weltkrieges in jenem unseligen dreissigjährigen Krieg zu finden, der Deutschland gehindert hat, bei der Weltverteilung und Verteilung der Macht in Europa mit den anderen Völkern Schritt zu halten.

Wenn wir diese Ursache des Krieges zugeben, so wollen wir noch nicht dessen Notwendigkeit anerkennen. Wir sind vielmehr der Ansicht, dass auch dieser Krieg — und das ist das Bedauerliche — mit Leichtigkeit hätte vermieden werden können. Der Pazifismus war am Werk, diesen Gegensatz zwischen dem sich ralliierenden Europa und dem so begründet misstrauischen, auf isolierte Machtpolitik orientierten Deutschland auszugleichen. Der Erfolg wuchs mit jedem Tage. Das Verständnis für die besondere Stellung Deutschlands bei den Weststaaten, das Vertrauen Deutschlands gegenüber der Organisationspolitik nahm täglich zu. Der Weg der Verständigung von Volk zu Volk erwies sich als gangbar, und die Vernünftigen aller Länder fingen an, positiv nach dieser Richtung mitzuarbeiten. Die Gegenkräfte, die von der Vertiefung des Zwiespalts lebten, waren aber wachsam. Sie fürchteten den Ausgleich. Ihre Niederlage, die sie erlitten, als der Balkankrieg ohne europäischen Zusammenstoss vorüberging, weckte sie auf zu einer letzten Kraftanstrengung. Gewissermassen in einem unbewachten Augenblick legten sie den Brand an. Man kennt die Entwicklung. Heute blutet Europa. So muss es denn auf dem Wege der Gewalt zu dem endlichen Ausgleich jener geschichtlichen Eniwicklungsdifferenz kommen, die die Pazifisten durch Verständigung zu überwinden versucht hatten. —

Wie eine Möwe dem verirrten Schiffer erscheint mir die Nachricht von dem Ende Oktober erfolgten Zusammentritt des «Internationalen Landwirtschaftlichen Instituts» in Rom, wobei die Vertreter aller 55 Staaten, somit auch die der kriegführenden, erschienen waren. Der Präsident Marchese Capelli gedachte der kriegerischen Ereignisse und hob ihnen gegenüber die Aufgabe des Instituts hervor, «den Staaten beizustehen, um die durch den Krieg vernichteten Reichtümer wiederherzustellen.» Und sie bewegt sich doch! — Die zwischenstaatliche Kooperation kann auch durch den Krieg nicht vernichtet werden! Sie lebt und wird gerade durch den Krieg zu einer erhöhten Anerkennung ihrer Bedeutung führen.