Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 27. September.

Die neue Phase des Weltkriegs entwickelt sich in rascher Steigerung. Am Balkan hat nun neben Bulgarien auch Griechenland mobilisiert und an der Westfront hat eine riesige Offensive der Engländer und Franzosen eingesetzt. Es scheint, ein Blutbad unerhörtester Art zu sein. Der deutsche Generalstabsbericht spricht am 25. von einem fünfzigstündigen stärksten Artilleriefeuer der Franzosen und am 26. sogar von einem siebzigstündigen. Wieviel Tausende werden auf beiden Seiten an diesem Kampf wieder ihr Leben hergeben müssen! Es scheint, das erbittertste Ringen dieser blutigen Periode einzusetzen.

Und da soll man nicht vom Frieden sprechen, nicht die Wege suchen dürfen, die dahin führen. Die «Frankfurter Zeitung» (26. September) stimmt in einem Artikel «Nationale Disziplin» den in der alldeutschen Presse erhobenen Angriffen gegen den holländischen Anti-Oorlog-Raad und gegen die Beteiligung Deutschlands an seinen Arbeiten zu. Warum? «Der Anti-Oorlog-Bund gibt sich selbst als eine Vereinigung, die dem Frieden und der friedlichen Arbeit zwischen den Nationen dienen will. Die Art aber, wie er diesem Zweck zu dienen sucht, ist wenigstens jetzt während des Kriegs bisweilen so, dass man sie von einer feindseligen Haltung gegen Deutschland schwer unterscheiden kann.

Also «deutschfeindlich!» — Was man nicht deklinieren kann ... Gerade im «Temps» habe ich vor kurzem das Entgegengesetzte gelesen. Er warnte vor dem «Anti-Oorlog-Raad», der eine deutsche Agentur (!) sei. Und gestern versicherte mir ein Franzose, dass die Beteiligung von Franzosen an dem für den Dezember in Bern geplanten Studienkongress dadurch erschwert sei, weil man den Anti-Oorlog-Raad als im Dienste Deutschlands stehend betrachtet.

Diese Widersprüche sind nur aus der Kriegspsyche erklärlich. Es wird alles als Feind der Völker betrachtet, was nicht kriegsenthusiastisch ist und was für die Vernunft eintritt. In Wahrheit ist der Anti-Oorlog-Raad weder deutschfeindlich noch franzosenfeindlich, er ist einfach kriegsfeindlich. Milde bezeichnet die «Frankfurter Zeitung» die Mitarbeit Deutscher an dem Werke des Anti-Oorlog-Raad als eine «Unvorsichtigkeit», und das einst demokratische Blatt hält es «nicht für ganz unangebracht», wenn ein alldeutsches Blatt darauf hinweist, dass es «übel angebracht» sei, «wenn während des Kriegs Deutsche mit Ausländern, die teilweise nicht nur feindlichen Ländern angehören, sondern Deutschland wirklich feindlich gesinnt sind, über Dinge beraten, die für Deutschlands zukünftige Stellung unter den Völkern von Bedeutung, vielleicht geradezu entscheidend sind». Diese Ansicht vermag ich nicht zu teilen. Zu den tröstlichsten Momenten inmitten dieser allgemeinen Zerrüttung gehörten für mich die Gelegenheiten, die mich hier mit Angehörigen der feindlichen Staaten zusammengeführt haben. Ich habe die Überzeugung gewonnen, dass die Völker nicht so aussehen, wie die Zeitungen sie schildern, und dass hinter deren Grimassen wahre Menschen stecken, die den Krieg hassen, sich dieses Verbrechens wohl bewusst sind und in der Zukunft daran mitarbeiten wollen, ihn zu überwinden. Gestern besuchte mich Herr Y. aus Paris, der dreizehn Jahre in Deutschland gelebt und dieses Land wie die Menschen achten und lieben gelernt hat. Er beklagte, wie wenig man in Frankreich Deutschland kenne. Wie weder Delcassé noch Poincaré eine Ahnung von Deutschtum haben, und wie man sich mit dem abfindet, was der Krieg als Barbarei erscheinen lässt, und mit dem Eindruck der grossen Organisation, die nur die Furcht vor Deutschland erhöht. Einzig die von der Front Zurückkommenden haben einen anderen Eindruck von Deutschland. Sie sind frei von Hass, und sie werden nach dem Krieg die Möglichkeit zu einer Wiederanknüpfung bieten. So ähnlich sprachen mir viele Franzosen und französische Frauen. Warum soll daher ein Zusammentreten mit den Bürgern des feindlichen Auslandes ein Verbrechen oder ein Nachteil sein? Warum soll es nicht gestattet sein, mit solchen von der Zukunft unseres Erdteils zu sprechen, an die man schliesslich doch denken muss, wenn man nicht verzweifeln will. Ewig werden wir uns ja doch nicht mit der unwürdigen Konversation durch den Granathagel auf Menschenleiber zufrieden geben können. Es muss das Licht der Vernunft aufgehen, und nach dem Krieg wird man jenen Männern danken, die, ohne Rücksicht auf die ihnen zuteil werdenden alldeutschen Angriffe, diesen Aufgang der Vernunft beschleunigt haben.