Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Mürren, 18. August.

Die Beschäftigung der Presse mit dem Pazifismus nimmt zu. Nicht ihr Verständnis dafür. Obenan die Verwechslung von Friede und Nichtkrieg. Alle Bestrebungen zur Herbeiführung eines Friedensschlusses, zur rascheren Beendigung des Krieges werden als pazifistische angesehen. Während sie nur soweit pazifistisch sind, als der auf einer Organisation begründete Charakter der Dauerhaftigkeit dieses Friedensschlusses in Betracht kommt, ganz abgesehen von der Dauer des gegenwärtigen Kriegs. Wir erstreben nicht abkürzbare Kriege, sondern die vernünftige Vermeidung dieser Art der Auseinandersetzung. Nebenbei wird uns noch immer das Streben nach dem verfluchten «ewigen» und dem Allerweltsfrieden in die Schuhe geschoben. Paul Harms spricht in seiner Wochenschau im «Berliner Tagblatt» (15. August) von der «Friedenszone im Herzen Europas» und hält es für angebracht, dabei dem Pazifismus eins versetzen zu müssen. Er schreibt: «Die nur eines Friedens froh werden mögen, der sich bis an den Grenzen der Menschheit und der bewohnten Erde ausdehnt, werden sicher eine Enttäuschung erleben». — Und das geschähe ihnen auch ganz recht. Wer sind aber nur «die»? Wo stecken solche Esel? Es ist anzunehmen, dass von tausend Lesern jenes Artikels 999 jene Anspielung als auf die Pazifisten gemünzt ansehen werden, ja, dass der Verfasser diese auch damit gemeint hat. Aber der Wirklichkeit entspricht das nicht, denn der moderne Pazifismus denkt nicht an den allgemeinen Menschheitsfrieden, sondern nur an eine Befriedigung der reifen Kulturgebilde und erwartet diese nicht durch ein Dekret per nächsten Donnerstag, sondern durch eine allmähliche — allerdings bewusst zu fördernde — Entwicklung. Es ist daher schade, dass die für Kultur und Fortschritt so empfänglichen Leser des grossen Berliner Blattes über eine der Kultur und dem Fortschritt in so hohem Maße dienende Bewegung in einer den Tatsachen so wenig entsprechenden Weise unterrichtet werden. Paul Harms ist überhaupt ein Gegner der Friedensbewegung. Das kommt auch in seinen wiederholten Versuchen, den Friedenspreis der Nobelstiftung herabzuziehen, zum Ausdruck. Er sagt in dem hier erwähnten Artikel, von Bismarcks Taten sprechend: «Freilich er hat keinerlei Abhandlung über den ewigen Frieden (!) geschrieben und den Friedensnobelpreis hätte er, auch wenn er länger gelebt hätte, schwerlich bekommen. Denn er wird bekanntlich (!) nur für Worte und nicht für Taten verliehen». Herr Paul Harms verkennt die Leistungen etwas. Nur für Worte wird jener Preis sicher nicht erteilt. «Du musst es anders übersetzen». Am Anfang mag die Tat gewesen sein, wie Faust noch meinen durfte; seither wissen wir, dass jeder Tat eine Idee zugrunde liegen muss, die im Hirn dessen, der sie erkannt, nicht stecken bleiben darf, sondern mitgeteilt werden muss; mitgeteilt durch das Wort. Die Idee ist der erste Schritt zur Tat, ihre Voraussetzung, und «Worte» sind die Brücken, die von ihr zur Vollendung führen. Auch Bismarcks Tat wäre nicht möglich gewesen ohne Idee und nicht ohne jene, die unter heldenhaften Opfern der Tat vorgearbeitet haben. Wie kann man so an der Oberfläche haften bleiben?

Ein anderes Bild. Die Wiener «Reichspost». Sie schreibt in einem Leitartikel:

«Wie es gute und böse Menschen gibt, so gibt es auch gerechte und ungerechte Kriege, Kriege, die für das Gute und für die höchsten Güter der Menschheit, für die sittliche Ordnung und ewigen Gesetze, und Kriege, die gegen das alles unternommen werden. Es sind die kleinen Geister und die Feigen, die im gegebenen Fall nicht wissen, diese Unterscheidung zu werten und denen jeder Krieg einfach Krieg ist, so wie der Papagei wahllos jede Erscheinung mit der einen von ihm gelernten Satzformel ausspricht».

Du ahnungsloser Engel du! Das wissen wir alle; wir wissen auch, dass es einen gerechten Krieg gibt. Aber wohlgemerkt nur einen, nicht verschiedene. Das ist der Krieg der Abwehr gegen einen Angriff. Soweit ist der Pazifismus auch mit der «Reichspost» einig, doch trennen sich seine Wege, wenn es sich darum handelt, das Kriterium der Gerechtigkeit eines Kriegs festzustellen. Oder meint das Blatt, dass dafür einfach die Versicherung der Parteien genügt? Sie behaupten ja alle, überfallen zu sein, nur für die Abwehr, nur für die «sittliche Ordnung und ewigen Gesetze» zu kämpfen. Auf dieses billige Mittel der Parteienversicherung können wir uns nicht verlassen; denn ein Teil ist sicherlich im Irrtum oder in der Lüge befangen. Der Pazifismus hat das Kriterium nachgewiesen. Derjenige ist der Angreifer, der bei einem zwischenstaatlichen Konflikt die Mittel der friedlichen Lösung abweist und sofort zur gewaltsamen Entscheidung greift. Allerdings setzt dieses Kriterium eine bereits bestehende zwischenstaatliche Ordnung voraus. Wer sich der Bildung einer solchen widersetzt begünstigt Kriege.

Wie beneide ich die Chemiker, dass ihre Wissenschaft der öffentlichen Diskussion entzogen ist und nicht in jedem Redaktionsstuhl einen erhabenen Richter zu fürchten braucht. Krieg und Friede sind nun einmal öffentliche Domäne, darum glaubt man die Wissenschaft des Pazifismus in Leitartikeln bekämpfen zu können, während man die Chemie ungeschoren lässt.