Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 4. Juni.

Stockholm! Der französische Ministerpräsident Ribot erklärt in seiner Rede vom 1. Juni, dass er den französischen Sozialisten die Ermächtigung zur Reise nicht gibt. Die Regierung, so sagte er, will die Verantwortung nicht auf sich nehmen, sie will die Möglichkeit verhindern, dass eine Partei sich anmaßt, anstelle der Regierung zu treten. — Das ist der Fluch der bösen Tat! Da die Freizügigkeit aufgehoben, und heute jeder Reisende durch die Passbewilligung die Zustimmung seiner Regierung zu der Reise erhalten muss, erscheinen alle zur Stockholmer Konferenz reisenden Sozialisten als Proteges ihrer Regierungen. Ribot sieht dies noch rechtzeitig ein. In Wien und Budapest ist man erst draufgekommen, nachdem die österreichischen Sozialisten in Stockholm ihre Erklärungen deponiert hatten. Ein scharfes Dementi folgte, worin die Idee zurückgewiesen wird, dass die Passerteilung an die Sozialisten einer Delegierung gleich käme. Diese handeln auf eigene Verantwortung.

Das scheint auch leider zu stimmen. Denn so sehr auch das von den österreichischen und ungarischen Sozialisten aufgestellte Friedensprogramm zu billigen ist, die Hoffnung, dass es, nach der jetzigen Lage der Dinge, verwirklicht werden könne, ist zu gering. Die Postulate der Sozialisten erinnern ein wenig an die Resolutionen unserer (von den Sozialisten so weidlich verlachten) Friedenskongresse vor dem Krieg. Sie halten das Wollen nicht im Einklang mit dem Können.

In Frankfurt a. M. fand Ende Mai die Gründungs-Versammlung einer Vereinigung «Mitteleuropäischer Staatenbund» statt. Dieser will so eine Art «Pazifismus m. b. H.» gründen. Denn einer der Redner sagte:

«Im Gegensatz zu den Pazifisten, die den Frieden von den Gesamtorganisationen der Staaten erwarten, glaubt der Verein, dass der ,Mitteleuropäische Staatenbund’ die Grundlage für einen Friedensbund bilden werde, an dem sich weitere Staaten angliedern werden.»

In Wirklichkeit liegt in dieser mitteleuropäischen Idee ein Kompromiss der alten politischen para-bellum-Theorie mit dem Pazifismus. Eine Staatenorganisation, die, ja um Gottes willen nicht, alle Staaten umfasst, sondern Spielraum lässt für «Erbfeinde» und das Weiterrüsten ermöglicht, das ist der Wechselbalg, der aus dieser geistigen Ehe eines falsch verstandenen Pazifismus mit dem liebgewordenen und gute Gesinnung legitimierenden Militarismus hervorgehen soll. Er wird kein langes Leben haben, dieser Wechselbalg.