Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Spiez, 1. September.

Ebenso wie die deutsche Regierung mit dem Willen des russischen Volks rechnet, hofft Wilson in seiner eben bekanntgegebenen Beantwortung der Papstnote auf den sich durchringenden Willen des deutschen Volks.

«Wir können,» so heißt es in dieser Anwortnote, «das Wort derjenigen, die heute Deutschland regieren, nicht für geeignet halten, um hinreichende Garantien für einen dauerhaften Zustand der Dinge zu bieten. Damit wir daran glauben, müsste das Wort auf eine so offenkundige Manifestation des Willens und der Absicht des deutschen Volks gestützt sein, dass eine rückhaltlose Annahme durch andre Völker dadurch gerechtfertigt würde. Ohne solche Garantien und bei dem gegenwärtigen Zustand der, Dinge kann niemand und kann keine Nation ihr Vertrauen Verträgen schenken, die mit der deutschen Regierung abgeschlossen werden, selbst wenn sie die Grundlage für ein Abkommen über die Abrüstung bilden, selbst wenn sie durch ein schiedsrichterliches System die Auswirkung der militärischen Gewalt ersetzen, und selbst wenn sie vorteilhafte Abmachungen hinsichtlich der Rekonstitution der großen Völker enthalten. Wir müssen daher eine neue und offenkundige Erklärung der wirklichen Absichten erhalten, die die Völker der Zentralmächte hegen. Vorher wird nichts möglich sein.»

Vorher wird nichts möglich sein!

Wilson lehnt es rundweg ab, mit den Vertretern der militaristischen Weltanschauung und der absoluten Selbstherrschaft in Deutschland zu verhandeln. Er will dem Willen des deutschen Volks zum Durchbruch verhelfen. Alle, die die Demokratie in Deutschland erstreben, werden Wilsons Forderung verstehen und billigen. Sie werden sich aber auch klar darüber sein, dass ihnen der Kampf dadurch nicht erleichtert wird. Die sich bedroht fühlende militärische Autokratie wird die Forderung Wilsons dem Volk als einen frechen Eingriff in die inneren Angelegenheiten darstellen, als eine Erniedrigung, und wird die Leichtgläubigen an ihrem Seil zu fesseln wissen. Freilich, diese Machenschaften werden am Ende nicht gelingen, aber verlängern und verbittern wird sich der Kampf.

Immerhin! Wir Pazifisten müssen uns vor diesen ehernen Worten beugen. Aus dem Mund des Präsidenten der amerikanischen Republik weht der Odem des Gelehrten, spricht der neue Geist der neuen Menschheitsperiode, die wir durch Jahrzehnte gekündet haben und vorbereiten halfen. Vorbereiten halfen in diesem Deutschland, dessen mittelalterliche Geister uns verhöhnten und dem Witz der urteilslosen Menge Preisgaben. Sie ahnten nicht, wie sehr sie das Unheil des Landes, den Schmerz des Volks bereiteten, indem sie sich uns widersetzen, die wir das große und begabte deutsche Volk hinüberleiten wollten zu den Ideen, die die neue Zeit beherrschen und es retten wollten vor dem harten Zusammenprall mit den aufstrebenden neuen Ideen. Vor dem Blutbad und dem wirtschaftlichen Niedergang wollten wir Volk und Land retten, und sie lieben uns niederreiten mit dem rasselnden Getöse der Wehrvereine, der Flottenvereine, der alldeutschen Gruppen. Hätte man uns gefolgt, hätte man sich bereit gefunden für internationales Zusammenwirken, für Anerkennung des Rechts im Verkehr der Völker, für Organisation und Verständigung, für Erkenntnis des Geistes der Andern und Achtung vor fremder Eigenart, hätte man den unzeitgemäß gewordenen Glauben an Blut und Eisen von sich gestreift, dann hätte man heute nicht gegen den Unwillen einer koalierten Welt zu kämpfen, hätte man es nicht nötig, die Zurückweisung jener von uns bekämpften Ideen aus dem Mund eines fremden Staatsoberhauptes zu vernehmen, hinter dem eine unabgenützte Armee von vielen- Millionen und ungeheure Reichtümer stehen. Diese Armee will sich jetzt, wo das deutsche Volk seit drei Jahren blutet und stirbt, für die selben Ideen Gehör, verschaffen, für die wir die Jahrzehnte vorher gekämpft. Wir haben es anders gewollt!

Die Hauptwaffe der deutschen Militaristen gegen die durch Wilson erhobene Forderung wird der Einwand sein, dass eine Einmischung eines fremden Staats in die innere Angelegenheiten des eignen nicht zulässig sei. Das ist eine hohle, heuchlerische Phrase. Heuchlerisch deshalb, weil die Vertreter eines Systems, das auf Krieg begründet ist, am allerwenigsten das Recht haben, sich gegen fremde Einmischung aufzulehnen. Der Krieg hat ja nur den einen und einzigen Zweck, mit Gewalt sich in die Angelegenheiten andrer Völker einzumischen. Ist das, was der deutsche Militarismus in Belgien, Nordfrankreich, Polen, Litauen, und Kurland tut, nicht eine drastische Einmischung in die inneren Angelegenheiten fremder Völker?

Hohl ist jene Phrase aber deshalb, weil sie die Frage entstellt. Gewiss soll jedes Volk Herr seiner eignen Angelegenheit sein, und gerade durch die von uns Pazifisten erstrebte zwischenstaatliche Organisation soll das Selbstbestimmungsrecht aller Völker gegen fremde Eingriffe gesichert werden, viel mehr gesichert, als dies bisher durch den Schutz der Waffen möglich wurde. Aber die Souveränität hat eine Grenze, die dort beginnt, wo die eigne Angelegenheit die Interessen anderer gefährdet. Wie wir im bürgerlichen Leben, bei aller Hochachtung der Freiheit des Einzelnen, uns dagegen wehren würden, dass jemand in seiner Wohnung eine Dynamitfabrik betreibt, oder Cholerakranke beherbergt, weil dies die Interessen aller Nachbarn gefährdet, hat jeder Staat das Recht gegen innere Angelegenheiten eines andern Staates sich zur Wehr zu setzen, die letzten Endes seine eigenen Interessen auf das ärgste bedrohen. In einer Welt, die die Last des Kriegs nicht mehr auf sich nehmen, die an Stelle der Gewalt das Recht einführen will, hat jeder, diese Forderung aufstellende und befolgende Staat ein Recht, gegen einen Kriegsherd in der Nachbarschaft sich zu wehren, sich einzumischen, auf dass diese allgemeine Gefahr verschwinde.

Der Ausübung dieses Rechts wird aber in einer organisierten Staatenwelt der Stachel genommen, der ihm in der Anarchie anhaftet. Bei dem bisherigen Gewaltsystem der Zwischenstaatlichkeit wohnt jeder Einmischung das Odium des Zwanges, der Erniedrigung inne. Bei der zu errichtenden Organisation bedeutete Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines Staates, sobald diese das Interesse der Gemeinschaft berühren, einen freiwilligen Verzicht und gleichzeitig einen Schutz des durch die Einmischung betroffenen Staates. Die Einmischung geschieht nicht mehr von kauften gegen den Willen, sondern mit der Zustimmung des betroffenen Staates, die er im voraus der Gemeinschaft gegeben und mit der als Entgelt erhaltenen Zusicherung, auch seine Interessen durch die Gemeinschaft geschützt zu sehen, wenn diese etwa durch die inneren Einrichtungen eines andern Staates bedroht sind. Es ist das Ergebnis eines Ausgleichs, und jene fälschen den Vorgang, die ihn immer mit den Odium umgeben, der ihm in der Anarchie anhaften muss.

So zerfällt der Einwand der deutschen Militaristen gegenüber der Wilsonforderung in Nichts. Das deutsche Volk aber kann sagen: Ihr wollt den Schutz gegen kriegerische Gelüste, die aus der uns beherrschenden Autokratie entstehen können. Wir bilden unsre Demokratie, wir geben Euch diesen Schüfe, nicht weil wir uns erniedrigen, sondern weil Ihr uns den Schutz gegen autokratische Gefahren sieben andrer Staaten verheißt. In der Zwischenstattlichen Orgnaisation, die wir gründen werden, ist Einmischung ein Akt der Harmonie, nicht mehr der Anarchie.