Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 5. Juli.

Die Reise Scheidemanns nach dem Haag scheint doch nicht ganz ergebnislos gewesen zu sein. Das beweist seine vorgestrige Rede, die klugen und vernünftigen Inhalts ist, und womit die majoritäre Sozialdemokratie zum erstenmal im Krieg den Etat ablehnt. Wenn Scheidemann aus dem Ausland zurückkehrt, ist er immer vernünftig. So war er damals nach der StockholmerFahrt, als er daheim erklärte «Ohne Demokratie geht es nicht.» So ist es heute, wenn er sagt:

«Das darbende Volk leidet unter bitterster Not und Knechtschaft. Es ist unglaublich, was dem deutschen Volk fortgesetzt zugemutet wird. In diesen kritischen Wochen, von denen ich nicht weiß, wie wir durchkommen sollen, erleben wir das Trauerspiel der Wahlreform ... Es gibt nur eine Stimme: Schluß, Schluss in Ehren! Schluss in Ehren, das ist etwas anderes als das, was Sie auf der Rechten wollen. Schluss ohne Beeinträchtigung Deutschlands durch einen Friedensvertrag, aber Schluss. Bis auf einige Schlemmer ist das deutsche Volk sich einig, den Krieg als erfolgreichen Verteidigungskrieg so schnell als möglich zu Ende zu führen. Die Regierung muss offen aussprechen, was Herr von Kühlmann hier ausgesprochen hat. Wer unsre Selbständigkeit und Unversehrtheit anerkennt und unsere Ehre nicht antastet, mit dem machen wir Frieden. Militärische Entscheidungen beenden den Krieg nicht allein, aber wir brauchen eine Regierung, die auf eine Beendigung des Kriegs ausschaut. Einer Regierung, die den Belagerungzustand nicht beseitigt hat, vermögen wir nicht den Etat zu bewilligen. Die Regierung soll so schnei! wie möglich handeln. Das ist kein leichthin ausgesprochenes Wort, sondern das ist die Warnung und Mahnung. Seien Sie sich bewusst, Ungeheures steht auf dem Sipel. Es geht um das Leben von Millionen?»

Es ist Einkehr. Unzweifelhaft spricht Scheidemann die Gesinnung der überwiegenden Mehrheit des deutschen Volkes aus. Aber ich fürchte die Tragik eines «zu spät». Die Amerikaner, von denen einst lachend der Kriegsminister von Stein sagte, dass sie nicht herüberkommen können, weisen gestern zum Unabhängigkeitstag aus, dass bis jetzt 1 065 000 Mann in Europa stehen. Das wird doch die Hurraschreier bedenklich machen. Ob es nicht zu spät ist? Es kann wirklich der Zeitpunkt kommen, wo jede Friedensbereitschaft, auch die vernünftigste, von den Gegnern nur als Garantie eines vollen Sieges angesehen wird. Ich fürchte, der Zeitpunkt ist schon da. Um zum Frieden zu gelangen, bedarf es eines völligen Systemwechsels in Deutschland. Das wäre die einzige Garantie.

Am Grabe Washingtons in Mount Vernon hat Präsident Wilson am Unabhängigkeitstag eine Rede gehalten, in der, besser als es in der Kaiserrede vom 13. Juni geschah, der Kampf der beiden Weltanschauungen zum Ausdruck gebracht wurde, dem der gegenseitige Krieg gilt. «Es muss nun ein für allemal geregelt werden, was für Amerika in jener großen Zeit (der Zeit des Kampfes um die Unabhängigkeit durch Washington) geregelt wurde.» Die Rede Wilsons ist aber die kriegerischste, die er bisher gehalten. — Es fehlt die Versicherung, die er früher niemals unterlies, dass er noch immer bereit wäre zum Frieden, wenn seine Gegner die demokratischen Grundsätze anerkennen wollten, die der Neugestaltung der Welt zugrunde liegen sollen. Nun erklärt er, dass es in diesem Kampf kein Kompromiss geben dürfe.

«Für diesen Kampf darf es nur ein Ende geben. Die. Regelung muss eine endgültige sein. Es darf kein Kompromiss geschlossen werden; jede unbestimmte Lösung wäre weder annehmbar noch verständlich.»

Das ist die Verkündigung des Kriegs jusqu’au bout. In vier Punkten setzt Wilson wiederum die Ziele auseinander, die erreicht werden sollen. Er schließt mit einem Hinweis auf jene «Blinden in Preußen», die die Kräfte des Befreiungskampfes der amerikanischen Nation wieder erweckt haben.

«Sie kennen diese Kräfte schlecht, da sie nicht wissen, dass diese, wenn sie einmal auferstanden sind, nie mehr auf der Welt vernichtet werden können, da sie eine Inspiration und ein Ziel widerspiegeln, die unsterblich sind, und die in der Natur des Triumphes selbst liegen.»

Der Anarchie in Russland ist am Samstag der deutsche Botschafter Graf Mirbach zum Opfer gefallen. Revolverschüsse von Sozialrevolutionären, Gegner der gegenwärtigen Regierung, haben ihn niedergestreckt.

Die «Frankfurter Zeitung» (Nr. 187) meint: «Seit den chinesischen Boxerunruhen, denen der deutsche Vertreter in Peking zum Opfer fiel, ist eine derartige Verletzung des Völkerrechts nicht wieder vorgekommen.» Die Frankfurter Zeitung scheint die Einzelheiten des nun bald vier Jahre währenden Krieges, der mit dem Überfall auf Belgien begann, der selbst im ganzen eine Völkerrechtswidrichkeit und im einzelnen eine fortgesetzte Begehung von Völkerrechtsverletzungen ist, übersehen zu haben. Dabei ist die Ermordung eines Gesandten, wenn sie nicht von der Regierung selbst ausgeht, bei der er beglaubigt ist, überhaupt keine Völkerrechtsverletzung, sondern ein gewöhnliches Verbrechen wie jeder andre Mord.

So wird es wohl auch jetzt die deutsche Regierung auffassen, entgegen ihrer im Jahr 1900 bei der Ermordung des Gesandten Ketteier eingenommenen Haltung. Diese war auch nur ein gemeines Verbrechen, aber es gefiel der damals herrschenden Meinung, daraus eine Weltaffäre zu machen, aus der sich dann die «Pachtung» von Kiautschau ergab. Heute ist man mit der Bolschewikiregierung in Russland «befreundet» und ist daran, wie sich der Pfeilkorrespondent der «Neuen Zürcher Zeitung» (3. VII.) so schön die Wahrheit verratend, ausdrückte, die Bolschewiki «molarisch zu stützen» . Die preußisch-deutsch-christliche Weltanschauung als moralische Stütze der gegenwärtigen Regierung Russlands! Diese Weltanschauung wird den Mord des Gesandten ohne Sühnefeldzug, ohne Sühneprinzen und ohne Kotau hinnehmen und Kiautschau diesmal auf andre Weise erwerben.