Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 17. Februar.

Ich habe niemals geglaubt und habe dem oft Ausdruck verliehen, dass uns der fertige Völkerbund aus den Pariser Verhandlungen beschert werden würde. Wenn es die Grundlagen wären, so dachte ich, die entwickelt werden können, würde das schon ein großer Erfolg sein. So einschneidende Umwälzungen des sozialen Lebens können nicht auf einmal herbeigeführt, die Organisation der Welt kann nicht technisch konstruiert werden. Aber doch war, namentlich nach den Ankündigungen des Präsidenten Wilson, zu erwarten, dass eine einwandfreie, entwicklungsfähige Grundlage geschaffen werde. Darüber bereitet uns nun der soeben veröffentlichte Entwurf des Völkerbundes, der am 15. in feierlicher öffentlicher Sitzung der Pariser Konferenz von Wilson selbst verkündet wurde, eine bittere Enttäuschung. Er ist nichts weniger als einwandfrei, und entwicklungsfähig erscheint er mir mehr nach der Richtung der Desorganisation, des Versagens, der völligen Sprengung im entscheidenden Moment, denn nach der Richtung einer vollkommenen Sicherung gegen neue Kriege.

Der Entwurf legt das Hauptgewicht darauf, für den Fall eines Konflikts der nötigen Überlegung möglichst großen Einfluss zu gewähren. Er übernimmt die vielfach vorgeschlagenen Methoden der dilatorischen Behandlung zwischenstaatlicher Streitfälle und stellt das ganze Schwergewicht des Bundes zur Erzwingung der Anwendung dieser Methoden bereit. Es dürfte schwer sein, unter geordneten Verhältnissen sich diesem Zwang zu entziehen. Aber Kriege werden ja nicht mehr um kleine Zwiste geführt. Es sind ernste Lebensfragen, Auflehnung gegen wirkliche oder vermeintliche Gefahren, es sind oft irrige Ideen, die den Kriegswillen allmählich, oft Jahrzehnte hindurch, anwachsen und bei passender Gelegenheit zur Tat explodieren lassen. Dass ein Staat, der eine kriegerische Politik treibt, den Krieg führen wird, wenn er weiß, dass er in einem geschlossenen Völkerbund einen überlegenen Gegner besitzt, ist nicht anzunehmen. Aber die Verhältnisse wechseln, es gehen Veränderungen innerhalb der Staaten vor, Regierungen lösen sich ab und mit ihnen Ideen. Es können Verschiebungen eintreten, die das Abkommen von 1919 schwächen, schließlich nur mehr zur Formsache machen werden, und irgend ein kriegsbereiter Staatsmann wird eine Lage ausnützen, den Völkerbund zu sprengen und sich Alliierte oder Neutrale zu sichern.

Dieser Völkerbundsentwurf, der nur auf eine Reglementierung des Streitverfahrens abzielt, hat keine Bestimmungen geschaffen, die dem Völkerstreit seine bisherigen gefährlichen Formen nimmt, hat die Methoden der bisherigen Politik nicht zu wandeln versucht. Er hat in blindem Vertrauen auf die Funktionierung des so geschaffenen Instruments, die Lebensbedingungen der Staaten nicht zu ändern versucht, nichts bestimmt, um eine Grundlage für eine Gemeinschaftspolitik zu schaffen, um ein aufrichtiges Neben- und Miteinander zu zeitigen. Das ist der Grundfehler, der das Abkommen als ungenügend erscheinen lässt für den Zweck, dem er dienen soll. Rettungsboote und Rettungsgürtel allein genügen nicht gegen die Gefahr des Schiffbruchs, wenn das Schiff nicht selbst wettertüchtig und wasserdicht gebaut ist.

Was viel wichtiger wäre als die Regeln zur Erzwingung aufschiebender Behandlung von Konflikten, nämlich die Regelung des Verkehrs und der Handelsfreiheit, die Entwicklung des internationalen Zweckverbandes, das ist (Artikel 21 und 22) nur so nebenbei als Empfehlung für künftige Maßnahmen erwähnt. Der Schutz und die Rechte der Nationalitäten, deren Ansprüche sich so recht als die Sprengkräfte des Friedens erwiesen, finden nicht einmal Erwähnung.

Das Bedenklichste ist doch der Artikel 8, der die Notwendigkeit einer Reduktion der Rüstungen zaghaft anerkennt, diese aber sofort unmöglich macht, indem er Ausnahmen zulässt für die Erfordernisse der «nationalen Sicherheit» und «insbesondere der geographischen Lage jedes Landes». Das heißt doch dem Wettrüsten wieder Tür und Tor öffnen. Man muss sich nur erinnern, dass die «geographische Lage» Deutschlands der Vorwand für den deutschen Militarismus und der Antrieb zum Wettrüsten vor dem Krieg war. Auch die Bestimmung betreffend gegenseitige Informationen über die Rüstungen zu Wasser, zu Lande und über die Anpassungsfähigkeit der Industrien für den Kriegsgebrauch bezeichnet, dass die bisherige Anarchie im Rüstungswesen als bleibend angenommen wird. Der Gedankenaustausch darüber soll nur das Palliativmittelchen sein. Im selben Artikel 8 wird das verderbliche Wirken der privaten Kriegsindustrie zwar angedeutet, aber bloß festgestellt, daß sie «zu ernsten Einwendungen Anlaß gibt. Zu einem mutigen Zertreten der Giftschlange kommt es nicht.

Das Friedenswerk ist in der Werkstatt des Kriegs geschmiedet worden und trägt den Stempel seines Ursprungs an der Stirn. Es ist vom Misstrauen errichtet und vermag daher Vertrauen, die eherne Grundlage aller Friedenssicherung, nicht einzuflößen. Am wenigsten vermag das auch der Artikel 19, der von den Kolonien und jenen Gebieten spricht, «die infolge des Kriegs nicht mehr unter die Souveränität der Staaten fallen, die sie früher beherrscht haben». Hier wird mit der als Erlösung und Befreiung begrüßten Idee des Völkerbunds eine neue Form der Umschreibung und Verschleierung von Annexionen bewirkt. Dadurch wird der Gedanke in verderblichster Weise kompromittiert. Es wäre eine große Tat gewesen, wenn der Völkerbund die Verwaltung aller jener Kolonien in die Hand genommen hätte, die von Völkerschaften bewohnt werden, die zu einer selbständigen Regierung die Reife noch nicht besitzen. Ein internationales Kolonialamt, das, namens der Kulturgemeinschaft, die Vormundschaft über solche Gebiete übernimmt, wäre als glückverheißender Fortschritt zu bezeichnen. Aber das Überantworten dieser Vormundschaft an Nationen, die z. B. durch ihre «geographische Lage am besten geeignet» sind, die Ausnahmebestimmungen für Südwestafrika und einige Inseln des stillen Ozeans, die von dem Mandatarstaat «als integrierender Bestandteil dieses Staats» verwaltet werden sollen, bedeutet doch nichts andres als Annexion.

Es ist auch bedauerlich, dass man jede Anknüpfung an das Haager Werk unterläßt das ja bereits eine, durch die Mitarbeit aller Völker geheiligte Tradition besitzt. In dieser Unterlassung kommt es aber deutlich zum Ausdruck, dass man eben nicht einen Bund der Erdvölker, sondern einen von den Siegern des Weltkriegs zu begründenden Bund im Auge hat, der die andern Völker binden soll.

So sehen nun die Absichten Wilsons in der von Clemenceau und Lloyd George verschlechterten Wirklichkeit aus. Ist das die erhoffte Erlösung, ist das das Endergebnis dieser Katastrophe? — Dann können wir unsre Hoffnungen begraben und uns auf den grinsenden Triumph der Kriegsheber, der Schwerindustrie, und der Giftgaspresse gefasst machen.