Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Thun, 12. September.

Schückings Aufsatz «Das neue System» im «Berliner Tageblatt» (19. September) in mannigfacher Hinsicht interessant. Er handelt von der nicht zustandegekommenen Verständigung zwischen England und Deutschland im Jahre 1912. England bot die Neutralität an für den Fall, dass Deutschland in «frivoler Weise» angegriffen wird. Deutschland forderte die Neutralität für jeden «aufgezwungenen» Krieg. Schücking weist auf das Misstrauen hin, das gegen Deutschland allzugross gewesen ist und die Zustimmung zu einer solchen Formel verhindert habe. Er sagt dann: «Die ganze Schwierigkeit hatte ihren tieferen Grund darin, dass es bis heute noch nicht gelungen ist, ein international wirkendes Kriterium zu finden, den gerechten Krieg von dem ungerechten zu unterscheiden». Das ist tatsächlich der Kern des Problems. Und Schücking schlägt die von v. Bar gegebene Lösung vor: eine obligatorische Behörde für Interessenkonflikte, deren Gutachten zwar fakultativ sei, an die sich aber jeder Vertragsstaat wenden müsse, ehe er zu den Waffen greift. Ich halte diesen Vorschlag für einen Umweg, von dem es obendrein fraglich ist, ob er zum Ziel führt. Interessenkonflikte erzeugen Misstrauen und führen deshalb, sobald die Möglichkeit einer Gewaltentscheidung offen gelassen ist, zur Anwendung aller Unzuträglichkeiten der Gewalt, zu denen auch die Überrumpelung durch rascheres Handeln gehört. Wer unter Beibehaltung der bisherigen Verhältnisse glaubt, Krieg führen zu müssen, wird dem Gegner nicht erst Zeit geben wollen, sich durch Vertagung vorzubereiten, wie das Beispiel des Sommers 1914 erweist. Überdies, wenn es gelänge, das Kriterium des «gerechten» Kriegs festzustellen, gäbe es überhaupt keinen Krieg mehr; denn einen ungerechten würde kein Staat führen wollen, wegen der sich gegen ihn wendenden Koalition auch nicht führen können. Die Umwandlung muss tiefer einsetzen. Der Krieg muss von vornherein ausgeschaltet werden, und die Möglichkeit zur Vertretung von Interessen muss sich aus einer bewusst zu dem Zwecke der Kriegsausschaltung geschaffenen Staatenorganisation ergeben. Diese Organisation wird zu Anfang vielleicht auf schwachen Füssen stehen, und vielleicht nicht jeden Krieg vermeidbar machen, aber der ihr zugrundeliegende Gedanke wird immer stärker werden und alsdann doch seine Aufgabe erfüllen. Der deutsche Bund konnte den Krieg zwischen den deutschen Staaten auch nicht verhindern, die Idee, die ihn schuf, war jedoch stärker als die Gewalttendenzen des Einzelnen und führte schliesslich zu der Friedensunion des Deutschen Reiches.

Es handelt sich bei der Suche nach einem Kriterium des gerechten Kriegs um etwas Ähnliches wie bei dem Problem der «Freiheit der Meere». Es lösen heisst auch hier den Krieg ausschalten. Für den Frieden haben wir ja bereits das freie Meer. Für den Kriegsfall kann man es nicht sichern, weil wir endlich einsehen gelernt haben, dass der völkerrechtliche Vertrag wohl ein gutes Friedensinstrument ist, im Krieg aber versagt. Dieser Krieg hat nur sofern die völlige Vertraglosigkeit verhindert, als die Kriegführenden in der Lage waren, durch Repressalien die Einhaltung gewisser Formen zu erzwingen. Das schönste Abkommen über die Freiheit der Meere würde beim ersten Kanonenschuss in Zunder verfallen und nur demjenigen die Freiheit geben, der der Stärkere ist. Will man die Meerfreiheit im Krieg, muss man den Krieg abschaffen; muss man endlich anfangen, den Krieg als den grossen Bedroher aller Freiheit anzusehen. Das dürfte wohl auch Sir Edward Grey im Auge gehabt haben, als er erklärte, er würde sich zu einem Abkommen für die Freiheit der Meere bereit finden, wenn es gelänge, vorher eine Organisation zu schaffen, die alle Teilnehmer, England eingeschlossen, gegen Vergewaltigung schütze. Ein solches Abkommen würde virtuell den Krieg beseitigen.

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Die Friedensaussichten der letzten Tage verblassen wieder. Die Erwartungen, die man an die Verbindung des Papstes mit dem Präsidenten Wilson geknüpft hat, verflüchtigen sich. Soll nun das Gemetzel, dessen Schrecken und schreckliche Folgen eigentlich alle Kriegführenden heute zugeben, wirklich bis über den Winter währen? — Soll der Krieg mit seinem 300 Milliardenbudget pro Jahr wirklich zwei Jahre dauern? Denn so lange müsste er währen, wenn die Friedensverhandlungen erst im Frühjahr beginnen. Was kann das verblutete Europa dann noch entschädigen? Jetzt ist der psychologische Augenblick, wo der Vernunft wenigstens noch ein kleiner Rest von Einfluss gewahrt bleiben könnte. Es ist nur bedauerlich, wie ein grosser Teil der deutschen Presse (in den andern Ländern ist es übrigens nicht besser) die Nachrichten über Friedensmöglichkeiten behandelt. Aus dem heutigen Zettelpaket mit Zeitungsausschnitten seien nur einige Titelüberschriften hier festgehalten. «Erfundene Friedensvorschläge» («Königsberger Hartungsche Zeitung», 7. September), «Ein fauler Friede, ein englischer Friede» («Kreuzzeitung», 8. September), «Englische Friedensphantasien» («Germania», 7. September), «Kein Friedenssehnen» («Liegnitzer Tageblatt», 5. September), «Unzeitige Friedensgerüchte» («Kölnische Volkszeitung», 7. September), «Das Friedensgerede» («Leipziger Tageblatt», 9. September), «Überflüssige Friedensumtriebe» («Kreuzzeitung», 9. September), «Zweckloses Friedensgerede» («Flensburger Nachrichten», 4. Sept.), «Friedensgefasel («Rhein.-Westf. Zeitung», 7. Sept.), «Londoner Friedensgerede» («Tägliche Rundschau», 8. September), «Die britischen Friedensfaseleien» («Der Reichsbote», 7. September), usw. So wird die ernsteste Sache der Welt, nach der sich die Millionen sehnen, behandelt.