Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 12. Oktober.

Stürmische Tage im deutschen Reichstag. Die Mehrheit der Friedensresolution suchte sich gegen die Begünstigung der Kriegshetzer, der sogenannten Vaterlandspartei (Partei der Vaterlandsvernichter wäre besser) seitens der Regierung zu wehren. Verlegene Erklärungen des Reichskanzlers und des Kriegsministers. Dann kam der Staatssekretär der Marine mit dem großen Coup. Er enthüllte Vorgänge in der deutschen Marine, von denen bisher nur Wenige etwas gewusst hatten. Anfänge einer revolutionären Bewegung, deren Unterdrückung durch Pulver und Blei. Die Regierung wollte mit der Mitteilung dieser Vorgänge ihre Berechtigung zum sogenannten «Aufklärungdienst» bei der Armee rechtfertigen, aber wohl auch der Friedensmehrheit des Reichstags einen Stoß versetzen, indem sie die revolutionären Vorgänge in der Marine der Partei der unabhängigen Sozialisten anhängte. Erfreuliche Auflehnung des Reichstags gegen diesen Versuch. Besonders Naumann, bei dem Dämmerung eingetreten zu sein scheint. Die Regierung bewies nur ihre eigene Blindheit. Indem sie den Marinefall aus den Geheimakten des Kriegsgerichts vor den Augen der Welt ausbreitete, wird sie bei den Feinden Hoffnungen erwecken, die den Krieg verlängern müssen. Sehr gut Haase:

«Der Reichskanzler beweist nur, dass ihm und allen Anhängern seiner Politik das Messer an der Kehle sitzt. In einem solchen Augenblick, wo sie noch nicht wissen, wie sie aus all dem Elend herauskommen, schlagen sie los auf die Männer, die diese Kriegspolilik von Anfang an bekämpft und das Unheil vorausgesagt haben.»

Das Vorgehen der Regierung hat wenigstens das Gute gezeitigt, dass es die beiden Gruppen der Sozialdemokratie wieder zusammengeführt hat.

Dann die große Rede v. Kühlmanns. Darin die Erklärungen über Elsaß-Lothringen. «Nein! Nein! Niemals!» Der Verhandlungsbericht verzeichnet dabei: Stürmische Beifallskundgebungen. Mir fallen dabei die Worte des alten Passy auf der Haager interparlamentarischen Konferenz des Jahres 1894 ein, als der Führer der deutschen Parlamentarier sich gegen die Ausarbeitung eines Entwurfes für einen ständigen Schiedshof wandte und erklärte, die deutsche Regierung würde einem solchen Schiedshof niemals zustimmen. Passy erwiderte hierauf und sagte die prophetischen Worte: «Man soll niemals. Niemals' sagen!» Er hat Recht behalten. Ich glaube, dem Herrn v. Kühlmann wird es mit seinem Niemals auch nicht besser gehen, als damals im Jahre 1894 dem deutschen Parlamentarier. Über Elsaß-Lothringen wird man sich einigen müssen. Es braucht nicht zu einer Rückgabe zu kommen, aber zu einem Ausgleich wird es kommen müssen, sonst dauert der Krieg auch nach dem Friedensschluss weiter.

Am 24. Juni dieses Jahres schrieb ich in der «Neuen Zürcher Zeitung»: «Der Krieg ist durch Elsaß-Lothringen entstanden. Der Krieg wird, in gewissem Sinn, nur mehr um Elsaß-Lothringen geführt.» Herr v. Kühlmann bestätigt diese meine Behauptung, wenn er jetzt im Reichstag erklärte: «Die Frage, um die die Völker Europas kämpfen, ist nicht in erster Linie die belgische Frage, es ist die Zukunft Elsaß-Lothringens.» Gibt es ein unumwundeneres Eingeständnis, dass die Lösung dieser Frage der Frieden wäre. Und darf man dann so bedingungslos und pathetisch Nein sagen? Ist da jene Romantik am Platz, die in den Worten liegt:

«Solange eine deutsche Faust eine Klinge halten kann, kann die Unversehrtheit des Reichs, wie wir sie von unsern Vätern übernommen haben, nicht Gegenstand von Zugeständnissen sein. Elsaß-Lothringen ist Deutschlands Schild, das Symbol der deutschen Einheit.»

Der Staatssekretär hätte hinzufügen können: . . . der Ruin des deutschen Wohlstandes, das Krebsübel Europas. Liegen doch heute infolge dieser Romantik Millionen lebensfähiger Männer unter der Erde und werden ihnen noch Hunderttausende folgen müssen. Romantik passt schlecht zu den Ideen der Realpolitik. Mit Romantik kann man keine Geschichte machen, auch keinen Frieden.

Kühlmann wendet sich mit Recht gegen die französische Verschleierung des Begehrens durch das Wort Desannexion. Aber es deutet darauf hin, dass die französische Forderung unberechtigt sei, weil man den Zustand der Weltgeschichte nicht festlegen könnte, wo es hieße «ne varietur». Das stimmt, und wir Pazifisten haben immer darauf aufmerksam gemacht, dass man mit einer Rückwärtsrevision der Weltgeschichte zu keinem Ende kommt. Und doch lässt sich dieser Gesichtspunkt gerade auf die elsässische Frage nicht anwenden. Wenn es auch keinen Normalzustand der Weltgeschichte gibt, so gibt es doch eine mächtige Scheidewand zwischen der Zeit Ludwigs XIV., als Elsaß-Lothringen Frankreich angegliedert wurde, und der Zeit Wilhelms I. als es wieder zurückgegliedert wurde. Damals war der Begriff Staat und Volk noch amorph, aber im Jahre 1870 hatte sich der heute festere Staatsbegriff und das Volksbewusstsein bereits ausgebildet. Eine Annexion, die 1670 noch nicht als irgend etwas Unerträgliches empfunden wurde, bedeutete im Jahre 1870 schon einen empfindlichen Schlag für ein Volk. In Europa sind 1870 Annexionen schon ein Unding gewesen, und es war ein Fehler, dass die führenden Männer Deutschlands das nicht erkannt haben. So haben sie den Weltkrieg, das Weltunheil und Europas Vernichtung bewirkt durch dieses sorglose Unbekümmertsein um den veränderten Herzschlag der Zeit.

Romantik ist heute tatsächlich nicht angebracht, wo es sich darum handelt, zu retten, was noch zu retten ist. Die Frage Elsaß-Lothringen muss gelöst werden, deshalb sollte man sie lösen, ehe es zu spät wird und so lange die Lösung noch etwas nützen kann.