Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

24. September 1914.

Gestern kam die Meldung von der Versenkung dreier englischer Kreuzer durch ein deutsches Unterseeboot bei Hoek van Holland am 22. morgens. 1700 Mann der Besatzung sind dabei ertrunken. Aus Berlin liegt folgende Börsendepesche vor: «Die über die Tätigkeit unserer Marine in den indischen Gewässern vorliegenden erfreulichen Berichte (dort fanden auch einige «Versenkungen» statt) vor allem aber die Meldungen über die Vernichtung von drei englischen Panzerkreuzern durch deutsche Unterseeboote in der Nordsee erweckten in den Kreisen der Börsenbesucher die freudigste Stimmung». «Die freudigste Stimmung»! — Man denke an den Untergang der Titanic. Damals kamen auch 1650 Menschen um. Welcher Jammer ging durch die Welt. Es war ein toter Eisberg, der das bewirkte. Sofort schritten die Staaten zu einer internationalen Konferenz, um Schutzmassnahmen gegen derartige Unfälle zu treffen. Und hier ereignet sich das Unglück gewollt. Durch eine eigens dazu ersonnene kunstvolle Maschinerie. Die Tat ist Heldentum. Die Namen der Unterseeleute werden ruhmvoll veröffentlicht werden, wie heute berichtet wird. Und — nicht nur auf der Berliner Börse — in ganz Deutschland und Österreich herrscht «freudigste Stimmung». — Da erkläre mir doch einer diese Abgründe der menschlichen Psyche und beweise mir, dass der Krieg nicht ein Wahnsinn ist.

Die «Ethische Kultur» vom 15. September ist mir eine wahre Freude. Enthält einige sehr offene und vernünftige Artikel über den Krieg. Besonders gut Staudingers Vergleich mit den beiden aufeinander losfahrenden Eisenbahnzügen.

Auch Ostwald’s monistische Sonntagspredigt Nr. 11/12 unter dem Titel «Europa unter deutscher Führung» ist bemerkenswert. Er bezeichnet den Krieg in seinem Verhältnis zur Kultur wie das Messer des Chirurgen zum Leben. Das erinnert mich an meinen Artikel in der Juni-Nummer der «Friedens-Warte», wo ich die Alternative «Operieren oder behandeln» stellte. Dass die Methode der «Behandlung» möglich gewesen wäre, deutet auch Ostwald an, indem er zu Beginn seiner Predigt schreibt: «Das Ereignis wäre nun eingetreten. Es ist noch nicht die Zeit, die Frage zu erörtern, ob es sich vielleicht doch hätte verschieben oder gar vollständig vermeiden lassen». Gewiss, das wird von ungeheurer Wichtigkeit sein. Denn es ist schliesslich doch nicht so gleichgültig, ob wir diesen Weltzusammenbruch erdulden, weil es nicht anders möglich, oder trotzdem die Möglichkeit eines friedlichen Ausgleichs gegeben war. Ostwald, der nach diesem Kriege die Verwirklichung eines dauernden Friedens erblickt, macht der Auffassung Konzessionen, wonach dieser Zustand auf friedlichem Wege nicht erreichbar gewesen wäre. «Wir hatten unsere Zeit insoferne überschätzt und somit falsch beurteilt, als wir hofften, dass bereits jetzt die sachliche nüchterne Überlegung der ungeheuren Nachteile, die der Krieg bringt, und des ungeheuren Segens eines vollkommen sichern Friedens hinreichen würden, um die Nation davon zu überzeugen, dass ihre bisherige auf Kampf gerichtete Organisation unzweckmässig ist und durch die Organisation der gemeinsamen Arbeit ersetzt werden muss. Der Einfluss atavistischen Denkens und insbesondere das Schwergewicht der angehäuften Armeen und Kriegsmittel hat diesen Weg als für unsere Zeit ungangbar erwiesen, und wir Friedensfreunde müssen bekennen, dass wir uns in einem Irrtum befanden, als wir zu unserer Zeit die Wahl dieses Weges bereits für möglich hielten. Aber nahe daran waren wir schon . . . »

Ja, nahe daran waren wir schon; und deshalb wollen wir nicht so leichten Herzens einen Irrtum bekennen, der schliesslich nur deshalb Irrtum wurde, weil uns der Frevel der Gegner gegenüberstand, die das nahe Ergebnis unserer Arbeit durchkreuzten. Nein; unsere Hauptaufgabe nach dem Krieg wird es sein, darzulegen, aus welchen einzelnen Beweggründen, aus welchen Unterlassungen, aus welchen Interessen, Hoffnungen, Spekulationen heraus das Hemmnis eintrat, das den allgemein vorhanden gewesenen Friedenswillen für einen verhängnisvollen Augenblick lahmlegen konnte, um für den Willen zum Krieg freie Hand zu bekommen. Mit der Tatsache sich abfinden, freilich das tun auch wir, weil wir keine Narren sind. Aber doch nur bis zu einem gewissen Grad. Wieso diese von ganz Europa nicht gewünschte Tatsache zustande kommen konnte, — gegen seinen eigenen Willen — das müssen wir im Interesse der künftigen Entwicklung doch untersuchen. So leicht dürfen wir es jenen nicht machen, die den Krieg als Naturgewalt hinstellen und auch jenen nicht, die da behaupten, dass alle Entwicklung nur durch den Krieg komme, wozu die Ausführungen Ostwalds leicht eine Handhabe bieten könnten.