Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 31. Dezember.

Wieder geht das Jahr blutig zu Ende, ohne dass das gärende Europa sich gefunden hätte. Wieder sind im Laufe dieses Jahrs Hunderttausende in der Lebensblüte in ein grässliches Grab gesunken, weitere Zerstörungen vollbracht worden, die in Jahrzehnten nicht wiederhergestellt werden können. Das Unheil geht weiter. Und doch! Mehr als an den beiden vorhergehenden Jahreswenden des Kriegs dürfen wir heute auf ein Ende hoffen. Zwar sieht es noch immer trostlos genug aus, aber es wird doch wenigstens vom Frieden gesprochen, und das gibt den Millionen, die überall den gegenwärtigen Wahnsinn überwinden möchten, Mut und Berechtigung, den Friedenswunsch zu bekunden. Das ist schon viel. Man redet. Und das Reden wird stärker werden, wird aufflammen, wie einst Björnson es in seinem wunderschönen Gedicht beschrieben:

Verachtet von den Grossen,

Den Kleinen Trost und Licht,

Sagt, muss nicht so der Weg sein,

Den sich das Neue bricht?

Verraten just von denen,

Die ihr zur Hut bestellt,

Sagt, kämpft nicht jede Wahrheit So mit der stumpfen Welt?

Erst raunt sie, ein Geflüster, in reicher, goldner Saat.

Dann durch das Waldesdüster Braustlaut ihr Ruf zur Tat.

Bis Wolken an erdonnernd. Das Meer, die Kunde rauscht,

und alle Stimmen schweigen, und ihr die Erde lauscht.

Wird es nicht so kommen? Muss es nicht so kommen? Wie Meerestosen erdonnernd wird dieser nun einmal erweckte Schrei nach Frieden gar bald durch die Menschheit tönen.

Gerade heute wird die Antwort der Entente auf den deutschen Friedensvorschlag veröffentlicht. Man wird sie schroff nennen, sie als Ablehnung bezeichnen, unsere Vaterlandspächter und Heimkrieger werden sich entrüsten über Ton und Inhalt. Gut! Die geistigen Aufnahmeorgane sind durch den Krieg empfindlich geworden, und jeder wird die Antwort so auffassen, wie sie subjektiv auf ihn wirkt. Aber diese subjektiven Auffassungen sind nicht massgebend. Die Völker warten jetzt nicht auf lyrische Ergüsse, patriotische Leitartikel oder pathetische Gutgesinntheit, sondern auf das Brot des Friedens. Über das Äussere der Note hinweggehend, muss man ihren Kern betrachten, ihr eigentliches Wesen, das «Ding an sich», das sie darstellt, abgezogen von den Verkleidungen der diplomatischen Begriffe, in denen sie gedruckt erscheint.

Und diese Betrachtung des «Ding an sich» zeigt uns zunächst — und wieder einmal — dass die Kriegführenden, die sich seit dreissig Monaten nur zur Zerstörung und Tötung begegnen, miteinander reden. Sie können ja gar nicht mehr aufhören zu reden! Die Logik der Dinge zwingt sie dazu mit eiserner Faust. Und wie diese Note auch klingen möge, sie ist eine Antwort und erheischt wieder eine Antwort.

Viel sprachen die Verfasser der Entente-Note um den Frieden herum. Vielleicht zuviel. Aber — wie der deutsche Dichter richtig sagt: «Man spricht nicht so ausführlich, wenn man den Abschied gibt.» Und in der Tat, ein Abschied ist das Schriftstück nicht; es enthält Anfragen, es enthält Richtlinien, und noch mehr Bedeutung erhält es durch das, was nicht enthält.

Die Note ist vor allem ruhiger und sachlicher als all die Reden, die auf Seiten der Entente vorher gehalten wurden. Deren Schroffheit dient jetzt dazu, das amtliche Schriftstück zu heben, ins Relief zu setzen.

Die Betrachtungen, die sich in die Vergangenheit verlieren, lässt man am besten beiseite. Sie sind das Hemmwerk der Maschine. Dass die Gegenwart in der Antwort anders beleuchtet und eingeschätzt wird, als in der Anfrage, ist begreiflich. Von zwei verschiedenen Standpunkten aus gesehen, kann eine richtige Beurteilung einer Lage niemals erfolgen. Um aber auf einen gemeinsamen Standpunkt zu gelangen, darum drehen sich ja die Verhandlungen.

Bleibt die Betrachtung über die Zukunft. Auch sie ist verzerrt und verschleiert durch Verdächtigungen und Misstrauen. Man lasse sich aber durch diesen feldgrauen Stil nicht täuschen. Er dient nur dazu, die Forderungen einzukleiden. Diese sind:

1. Wiederherstellung der verletzten Rechte und Freiheiten,

2. Die Anerkennung des Neutralitätsprinzips,

3. Sicherstellung der kleinen Staaten,

4. Wirkliche Garantien für die Sicherheit der Welt,

5. Wiederherstellung und Sicherheiten für Belgien.

Das sind Forderungen, über die sich reden lässt.

Es wird an Deutschland liegen, auf den Kern der Antwortnote einzugehen und eine Grundlage zu bieten, die den Zweifeln über die Echtheit des Friedenswillens des Vierbunds Abbruch tut. Die Entente will verhandeln, dies beweist der Satz, wonach ihre Friedensliebe «heute ebenso entschieden» ist, «wie 1914». Sie will verhandeln, dies bezeugt ihre angebliche Besorgtheit, dass der «Versuch zu Verhandlungen zur Unfruchtbarkeit verurteilt werden könnte», wenn gewisse Behauptungen aufrechterhalten bleiben. Sie will verhandeln, weil sie das Friedensangebot nicht ablehnt, sondern bloss erklärt, dass sie «eine Anregung ohne Angabe von Bedingungen für die Eröffnung von Verhandlungen» als ein Friedensangebot nicht ansehen kann. Sie verlangt überdies mehr Inhalt und mehr Präzisierung des Angebots.

Wenn es zum Schluss heisst, dass die verbündeten Regierungen es ablehnen, den Vorschlag ernst zu nehmen, so lehnen sie das Friedensangebot als solches nicht ab, sondern nur dessen, ihrer Ansicht nach unvollkommenen Inhalt.

Die Bewegung zum Frieden ist im Fluss. Sie kann nicht mehr aufgehalten werden. Der wahnsinnige Krieg, dessen Urheber der Fluch der Menschheit treffen wird, neigt sich seinem Ende zu.

Das kommende Jahr wird ein Jahr schwerer Arbeit für alle werden, die dem Pazifismus, den die Ereignisse zur Losung der Zeit gemacht haben, ihre Kräfte weihen. Das Haus Europas soll gezimmert werden nach unsren Plänen, nach unsren Wünschen, auf Grund unsrer Vorarbeiten. Es wird das Jahr der Erfüllung werden.

In dieser Voraussicht, beseelt von diesen Hoffnungen, schließe ich meine Eintragungen für 1916.