Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 7. Oktober.

Des Kaisers Erlass an die Armee und die Marine ist nicht mehr so stolz und säbelklirrend wie frühere Kundgebungen, er ist eher kleinlaut zu nennen. Er spricht nicht mehr von Sieg, sondern von einem ehrenvollen Frieden, deutet, falls dieser nicht erreichbar, auf die Verteidigung hin. «Die Stunde ist ernst.» O, sehr ernst! In diesem Erlass wie in allen Kriegsberichten wird die zahlenmäßige Überlegenheit der Feinde hervorgehoben. Hat man das vorher nicht gewusst? Konnte man nicht addieren? Aber man hat ja dem Wahn gelebt, das man durch Rüstungen auch die Macht einer Koalition überwinden könne, und, umnebelt von der militärischen Romantik, achtete man nicht auf die von Klarsehenden erlassenen Mahnungen. Wir Pazifisten riefen es in die Wüste hinaus, dass die Idee des Wettrüstens eine Wahnidee sei, dass es nicht genüge, stark zu sein, sondern vielmehr notwendig wäre, stärker als alle anderen zusammen zu sein. Da das nicht möglich ist, ergibt sich, so lehrten wir, kein anderer Weg als der Weg zur Assoziation der Kräfte. Jetzt diese Notwendigkeit erst einzusehen, wo das Verbrechen schon geschehen, jetzt kann es nicht mehr als Entschuldigung gelten, auf die Überlegenheit des Gegners hinzuweisen.

In meinem «Handbuch der Friedensbewegung» schrieb ich 1911 (2. Aufl., I. Band, Seite 69):

«Der einzige Schuss gegen die üblen Folgen eines Krieges läge in einer kulturgemäßen Übereinkunft aller Staaten zur Verhütung der Ursache. Dieser von der Gesamtheit gewährleistete Zustand der Sicherheit, wo alle Staaten für jedes einzelne Glied der Gemeinschaft eintreten würden, wäre einer Vorbeugung des Übels zu vergleichen, die uns von der zweifelhaften Versicherung gegen dessen Folgen entheben würde.»

Und ich kann mich nicht enthalten, hier einiges aus meinem Artikel zu zitieren, den ich vor zehn Jahren in der Juninummer 1908 der «Friedenswarte» veröffentlichte. «Wohin geht Deutschland?» war er betitelt. Ich wies darin auf die allenthalben in der Welt sich entwickelnde Weltorganisation hin und auf den grellen Widerspruch, in dem sich Deutschland zu dieser Bewegung setzte. Ich brachte einige markante Beispiele von Kriegshebe aus deutschen Zeitungen zum Abdruck und schloss mit folgendem:

«Wohin geht Deutschland?

Wird es diesen verbrecherischen Ratschlägen folgen und den Ausweg durch einen Krieg suchen, der schließlich alle Gegner und Fürchter der Reiches zu einem mächtigen Hallali zusammenführen könnte? Oder wird es der Stimme der Vernunft folgen und unter jähem Bruch mit der alten Kraftmeierpolitik eine Politik des Friedens, das heißt des wahren, nicht nur des gefristeten Friedens, eine Politik der Weltorganisation betreiben?

Diese bange Frage bedrückt heute die Gemüter aller Besonnenen, nicht nur in Deutschland; in ganz Europa, in der ganzen Welt.

Der deutsche Pazifismus hat jetzt eine heilige Mission. Ihm obliegt es, mit energischer Mahnung hervorzutreten und zur Besinnung zu rufen. Er allein sieht, wohin der Weg führen kann; er sieht den Abgrund auf der einen Seite, das Glück der Welt auf der anderen. Dorthin muss er den Weg weisen. Solange aber die fortschrittlichen Parteien in ihrer Verblendung dem Pazifismus nicht Hilfe bringen, wird er seinen Beruf nicht ausüben können. Es ist entsetzlich, zu sehen, wie sich heute die Demokratie und der Liberalismus für innere Verwaltungsfragen ins Zeug legen und dabei selbst zur Uneinigkeit gelangen, während hier die Existenz des Volkes am Spiel steht. Für die gesamte Linke gäbe es heute nur eine Aufgabe: Die auswärtige Politik beeinflussen, und von der Politik der Verzweiflung zu einer Politik der Besonnenheit zu führen.

Für Deutschland gibt es nur zwei Auswege: den Krieg, den fürchterlichen, fast hoffnungslosen Krieg, oder die Führerschaft bei der Errichtung eines europäischen Staatensystems. Will es sich von Vernunft beraten lassen, dann kann das Reich nur eines Einberufung eines Kongresses, dessen Aufgabe es sein würde, aus den vielen Allianzen, Ententen und Bündnissen den europäischen Bund zu gestalten.

Welchen Weg wird Deutschland gehen?»

Heute, zehn Jahre nach dem dies geschrieben, kann man die Antwort geben. Deutschland ging, unter dem Antrieb seiner Kriegsfanatiker, den Weg zum Abgrund.