Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

22. August 1914.

Ein mächtiger Sieg der Deutschen bei Metz wird gemeldet; leider verbreitet sich auch das Gerücht einer am serbischen Kriegsschauplatz erlittenen österreichischen Niederlage. Es soll morgen erst bekannt gegeben werden.

Gestern kamen mir zwei Nummern der «Hilfe» zu (vom 6. und 13. August) mit wichtigen Aufsätzen Naumanns über den Krieg. Voll lapidarer Begeisterung; aber zwischen den Zeilen dringt doch die Sorge. Eine Stelle aus der «Hilfe» (nicht aus dem Naumannschen Artikel) kann ich mir nicht versagen, hieher zu setzen:

«5 Milliarden. Der Kriegsanfang soll 2,3 Milliarden kosten und jeder weitere Monat nach dem ersten etwa 3/4 Milliarde. Das ergibt eine Riesenschuld, die entweder von einer Kriegsentschädigung oder von unsern Steuern bezahlt werden muss. Wer in diesem Krieg unterliegt, ist finanziell fast ruiniert. Es ist der kapitalistischste Krieg, der jemals war. Das Volksvermögen steht auf dem Spiel; verlieren wir, so sind wir arm. Dann ist die Periode des deutschen Wirtschaftsaufschwungs vorbei. Um das zu erreichen, verbünden sich alle Gegner. Wir aber wollen bleiben und wachsen, wir wollen uns nicht in die Nebengasse der Weltgeschichte drücken lassen. Das Wagnis ist ungeheuer, aber da es uns aufgezwungen wird, so bleibt uns nichts anderes übrig: wir verdoppeln die Reichsschuld, wir borgen 5 Milliarden.»

Ja, das ist aber ein entsetzliches Risiko! Ist es unter solchen Umständen fasslich, dass Deutschland die Friedensbewegung nicht mit voller Kraft unterstützt hat. Gerade solange es im Besitz war, hätte es zur Sicherung dieses Besitzes — neben dem Heer — die pazifistische Bewegung mit seiner ganzen Macht unterstützen müssen. Ist es denn gar so vernünftig wegen einiger serbischer Apachen das Volksvermögen auf das Spiel zu setzen, die Periode des deutschen Wirtschaftsaufschwungs «in Frage» zu stellen? Wäre es nicht viel besser gewesen, man hätte die Friedensrüstung so stark gemacht, dass man der Vernunft und der Überlegung Raum zur Betätigung hätte gewähren können. Es war eine Hypertrophie des Elans entwickelt, die schädlich werden kann.

Die Begeisterung der ersten Zeit hat hier erheblich nachgelassen. Es liegt sogar schon etwas Schwüle in der Luft, und die in den Abendstunden gestern bekannt gewordene Nachricht über den Sieg vor Metz brachte einen erfrischenden Luftzug in die Gemüter. Dennoch wird die Spannung unerträglich.

Ich muss notgedrungen das Erscheinen der «Friedens-Warte» einstellen, wenigstens solange bis sich die Verhältnisse einigermassen geklärt haben. Die Ende Juli redaktionell fertiggestellte Nummer kann nicht mehr ausgegeben werden, weil ich die am 1. August in Berlin abgesandte Korrektur erst am 20.(!) August in Wien erhielt. Mittlerweile ist der Inhalt durch die inzwischen eingetretenen Ereignisse veraltet. Ich ging bei meinem Leitartikel nur von dem österreichisch-serbischen Krieg aus, nach dessen Ausbruch er geschrieben wurde. Der Wandel zum Weltkrieg kam in der am 28. Juli abgeschlossenen Nummer noch gar nicht zum Ausdruck.

Was soll auch jetzt die «Friedens-Warte»? Die Theorie ist zu Ende. Kritik an den Geschehnissen zu üben, wäre jetzt in höchstem Masse unangebracht. Dafür wird sich später Zeit finden. Aktuell kann man nicht sein. Das Beste ist, das Erscheinen einzustellen. Im geeigneten Moment kann ich dann wieder mit einer Nummer hervortreten. Den nicht erscheinenden Leitartikel, den ich unter dem Eindruck der österreichisch-ungarischen Kriegserklärung an Serbien geschrieben habe, möchte ich jedoch hier festhalten:

Im Banne des Krieges.

Wir haben zwar niemals behauptet, dass der Krieg aus der Welt geschafft sei — unsere Arbeit wäre ja sonst als überflüssig zu bezeichnen gewesen; aber gestehen wir es offen ein: unsere optimistische Hoffnung, dass ein von einer europäischen Grossmacht in Europa geführter Krieg nicht mehr möglich wäre, hat einen Echec erlitten. Er ist möglich geworden. Wir stehen mitten drin und blicken ratlos in die Zukunft; denn niemand in der Welt weiss, wie dieser Krieg enden wird, den Österreich-Ungarn soeben gegen Serbien unternommen hat.

Wir stehen einer Tatsache gegenüber, mit der wir uns zwar nicht abfinden, gegen die wir aber nichts zu unternehmen vermögen. Den Krieg zu bekämpfen, wenn er ausgebrochen ist, wäre Wahnsinn. Das ganze Prinzip der pazifistischen Betätigung liegt in der Vorbeugung.Dass die Methoden der Vorbeugung in diesem Falle nicht mächtig genug waren, um den Krieg zu verhindern, ist zu bedauern. Sie müssen in unentwegter Arbeit gestärkt und weiterentwickelt werden.

Österreich-Ungarn erhebt schwere Anklagen gegen seinen südlichen Nachbarn. Die Regierung rechtfertigt den Krieg mit fürchterlichen Dokumenten. Das ist natürlich vor jedem Kriegsbeginn der Fall gewesen. Immer handeln die Kriegführenden im guten Glauben und im Bewusstsein ihres Rechts. Die Erscheinung jedoch, dass dies in der Regel auf beiden Seiten der Fall ist, hat den Gedanken der Vorbeugung und Beilegung zwischenstaatlicher Konflikte durch Unparteiische erweckt und die Mittel dazu in den Bestimmungen der Haager Abkommen festgelegt.

Es ist jetzt nicht der Zeitpunkt, zu untersuchen, ob die Regierung der Donaumonarchie nicht besser getan hätte, die Wege der friedlichen Vermittlung wenigstens zu versuchen, und ob sie nicht mit geringerem Kräfteaufwand die gefährlichen Umtriebe in Serbien hätte überwinden können. Man hat es versucht, den Feldzug als eine «Polizeiaktion» hinzustellen.1)

Dabei wurde nur vergessen, dass eine Polizeiaktion eine Rechtsgrundlage haben muss, und eine Polizeiaktion gegen einen Staat eine aus der Staatengemeinschaft erfliessende Rechtsgrundlage. Gerade durch diese Grundlage wird die Polizeiaktion wirksam gegen den Verbrecher und unschädlich für diejenigen, zu deren Gunsten sie ausgeübt wird. Das ist keine Polizeiaktion mehr, die in das Leben von 50 Millionen Bürgern zerrüttend eingreift, den Familien ihre Ernährer und ihre Hoffnungen brüsk entreisst, die verfassungsmässigen Garantien beseitigt, den Handel und Verkehr lähmt, die Vermögen entwertet, die Lebensmittelpreise in die Höhe treibt, und schliesslich ganz Europa von Lissabon bis zum Ural in fieberhafte Erregung bringt. Das ist der Krieg! Der Krieg, der eben durch eine internationale Polizeiaktion in all seinen Schäden und Erschütterungen hätte vermieden werden können.

Es ist heut nicht an der Zeit, zu fragen, ob es im zwanzigsten Jahrhundert angebracht ist, für das durch eine Verbrecherhand vergossene unschuldige Blut eines Einzelnen ein Fünfzigmillionenvolk gegen ein Zweimillionenvolk auf den Marsch zu einem Rachefeldzug zu bringen, die Methode der Blutrache anzuwenden, die wir in Europa überwunden wähnten.

Es ist jetzt nicht die Zeit, die Verwunderung darüber auszudrücken, dass die Regierung der Monarchie die Vermittlung, die ihr angeboten wurde, nicht in so bereitwilliger Weise angenommen hat, als die Regierung der Vereinigten Staaten kürzlich die Vermittlung des ABC-Bundes in einem Konflikte annahm, der eine frappante Ähnlichkeit mit dem Konflikt besitzt, durch den Österreich-Ungarn jetzt zu einem Krieg getrieben wurde. Hier wie dort ein unruhiger Nachbar im Süden; aber hier der Krieg und dort die Polizeiaktion.

Die Zeit wird kommen, wo wir darüber werden sprechen können. Vorläufig herrscht die Gewalt, und es erscheint auch nicht angebracht, in dem Augenblicke, wo Hunderttausende von Volksgenossen ihr Leben einsetzen, über die Berechtigung der Aktion zu streiten, der sie dienen müssen. Wir müssen den Krieg ertragen mit allen seinen Übeln. Nicht nur mit der mörderischen Wirkung der Waffen und den Strapazen, die er auferlegt, nicht nur mit der Unterbrechung der Arbeit und des gesamten Kulturlebens, sondern auch mit jener die Strasse und die Presse erfuellenden Hurrastimmung. Die gehört nun einmal dazu, wie der Rauch zum Feuer, und es wird sie niemand ernst nehmen, der gewöhnt ist, für den Fortschritt der Menschheit zu arbeiten. Wenn Tausende auf den Strassen begeistert jubeln, so wissen wir, dass Millionen, viele Millionen in Österreich-Ungarn, in Europa, in der gesamten zivilisierten Welt, in tiefste Trauer versenkt sind. Ihre Stimme ertönt nicht, weil man sie nicht ertönen lassen will, aber der Geist, der imstande wäre, sie mächtig auszulösen, ist vorhanden, und er wird nicht untergehen durch diesen Krieg und seine Folgen, sondern wird durch ihn mächtig entflammt und genährt werden. Und eines Tages wird er wieder sprechen. A. H. F.»

22. August 1914.

Die Stille über den am 17. August gemeldeten «entscheidenden» Sieg vom 14. und 15., über den die Detailnachrichten noch folgen sollten, wurde gestern durch ein in den Abendblättern verbreitetes «Amtliches Communiqué über den Stand des Feldzuges in Serbien» unterbrochen. Dieses Communiqué hat folgenden Wortlaut:


«Mit dem Eingreifen Russlands in den Kampf zwischen Österreich-Ungarn und Serbien waren wir genötigt, unsere ganze Kraft für den Hauptkampf im Nordosten zusammenzufassen.

Damit wurde der von der Öffentlichkeit vielfach als Strafexpedition aufgefasste Krieg gegen Serbien von selbst zu einer die Hauptentscheidung kaum berührenden Nebenaktion.

Nichtsdestoweniger liessen die allgemeine Lage und die Nachrichten über den Gegner eine Offensivaktion zweckmassig erscheinen, die aber mit Rücksicht auf die vorstehend dargelegten Gesichtspunkte nur als kurzer Vorstoss auf feindliches Gebiet gedacht war, nach dessen Gelingen notwendigerweise wieder in die frühere zuwartende Haltung zurückzukehren war, um bei Gelegenheit abermals zum Schlage auszuholen.

Dieser kurze Offensivstoss erfolgte denn auch in der Zeit zwischen dem 13. und 18. August durch einen Teil der im Süden verwendeten Kräfte mit hervorragender Tapferkeit und Bravour und führte dazu, dass er fast die ganze serbische Armee auf sich zog, deren mit grosser numerischer Überlegenheit geführten Angriffe unter den schwersten Opfern an dem Heldenmut unserer Truppen scheiterten.

Dass auch diese zum Teil bedeutende Verluste erlitten, ist bei dem an Zahl weit überlegenen, um seine Existenz kämpfenden Gegner nicht zu wundern.

Als dann unsere auf serbisches Gebiet weit vorgedrungenen Truppen am 19. August, abends, nach erfuellter Aufgabe den Befehl erhielten, wieder in die ursprüngliche Situation an die untere Drina und Save zurückzugehen, liessen sie auf dem Kampfplatze einen vollständig erschöpften Gegner zurück.

Unsere Truppen halten heute die Höhen auf serbischem Boden und den Raum um Schabatz besetzt.

Im südlichen Serbien befinden sich die aus Bosnien dorthin vorgedrungenen österreichisch-ungarischen Truppen unter fortwährenden Kämpfen im Vorgehen in der Richtung auf Valjevo.

Wir können mit voller Beruhigung den weiteren Ereignissen entgegensehen, deren Verlauf das Vertrauen rechtfertigen wird, dessen sich unsere unter den schwierigsten Verhältnissen kämpfenden und mit einer den Laien undankbar scheinenden Aufgabe betrauten braven Truppen in den Tagen vom 13. bis 19. August wieder im vollständigen Masse würdig gezeigt haben».

Das will also besagen, dass man in Serbien nicht offensiv vorzugehen beabsichtigt, die serbischen Truppen zu beobachten und im Schach zu halten sich begnügt und die Entscheidung im Norden abwartet.

Das mag taktisch ganz logisch sein. Der besorgte Bürger jedoch, der von einem «Spaziergang nach Nisch» geträumt hat, der den eigentlichen Zweck des Krieges in einer Züchtigung der serbischen Mordanstifter sah, liest es anders.

Er liest vor allen Dingen, dass die österreichisch-ungarische Armee sich zurückgezogen hat, und zwar nach «bedeutenden Verlusten» und vor der «numerischen Überlegenheit» des Gegners. Ich kann mir wohl denken, wie der Inhalt dieses «Communiqués» in der Presse der feindlichen Länder dargestellt sein mag.

Dieses «Communiqué» ist voll von Widersprüchen. Während oben von der Notwendigkeit eines «kurzen Vorstosses» und eines schon vorher beabsichtigten Zurücknehmens in die «frühere zuwartende Haltung» gesprochen wird, als deren Folge dann das anbefohlene Zurückgehen «in die ursprüngliche Situation an der unteren Drina und Save» angeführt wird, spricht man unmittelbar darauf von einer Armeeabteilung im südlichen Serbien, die in der Richtung von Valjevo vorgeht. Warum, so fragt man sich, geht jene Abteilung vor, wenn man doch planmässig eine «zuwartende Haltung» beabsichtigt. Sollte dieses Zurückgehen nicht dem ursprünglichen Plan widersprechen? — Leider scheint es so zu sein.

Die Stimmung ist auch furchtbar gedrückt, die kriegerische Begeisterung scheint im Schwinden begriffen zu sein, und Viele fangen an, nachzudenken. Nachdenken ist aber die grösste Gefahr für den kriegerischen Elan.

Der Sieg der Deutschen bei Metz mit 10,000 Gefangenen scheint gross zu sein. Immerhin dürfte das in Wien und Berlin mit Jubel begrüsste Ereignis nur eine Episode einer Riesenschlacht sein, die sich auf dem Terrain zwischen Brüssel und Basel abspielt und deren Erledigung sich nach den Beispielen aus dem mandschurischen Krieg und der bisher leider so sehr zutreffenden Vorhersagen Blochs viele Tage bis zu Wochen erstrecken kann.

Die offizielle Kriegsberichterstattung bei uns ist nicht klug. Sie ist zu gewunden und dadurch nicht vertrauenerweckend. Vor zirka 8 Tagen wurde von einem Seetreffen in der Adria berichtet, wobei die «Zenta», wie es in dem Bericht hiess, «abgebracht» worden sei. Was heisst «abgebracht»? Man erzählt sich allenthalben, die «Zenta» sei gesunken. Dies wird heute offiziell gemeldet und zwar in der Weise, dass von der Rettung von 184 Personen der Besatzung jenes Schiffes Mitteilung gemacht wird. Kein Wort von der Zahl der Untergegangenen.

Eine andere Meldung über siegreiche Kämpfe einer Truppe bei Visegrad meldet nichts von dem, worin der Sieg eigentlich bestand, sondern nur von der «Bravour» der Truppen. In der Meldung befinden sich folgende Sätze:

«Dass auch unsererseits namhafte Verluste zu verzeichnen waren, ist vor allem der Tollkühnheit und Todesverachtung zuzuschreiben, womit sich unsere Truppen auf den Feind warfen.

Die Offiziere versichern, dass unsere Soldaten einfach nicht zu halten sind, und dass ihnen der Bajonettsturm die liebste Kampfmethode ist.»

«Die liebste Kampfmethode» erinnert etwas an den Stil im französischen Kochbuch, wo es heisst: «Der Krebs liebt es, lebendig gesotten zu werden».

Das ist keine würdige Berichterstattung. Es ist der Stil unserer Operetten- und Theater-Referate, wo das reklamehafte Geschmuse die Hauptsache bildet. Die Bravour der Truppen und die Meinung der Offiziere, darüber zu sprechen ist jetzt Nebensache, auf den Festen der Kriegervereine wird dazu die Zeit gekommen sein. Jetzt handelt es sich darum, zu melden, was geschehen ist, und wo wir stehen.

Die Deutschen beschiessen Namur, wo sich ihnen die in Havre gelandete englische Feldarmee entgegenstellt. Von hier werden wir also in den nächsten Tagen Wichtiges erfahren.

Die Deutsche Friedensgesellschaft hat am 15. August eine ernst und klug stilisierte Kundgebung erlassen, die sie als 2. Kriegsflugblatt veröffentlicht. Dieses ist mir heute zugekommen. Wir hier in Österreich wären nicht in der Lage gewesen, eine derartige Kundgebung zu erlassen. Bei der Ausschaltung des gesamten Verfassungslebens, wodurch jede Pressfreiheit aufgehoben wurde, ist uns jede Betätigung unmöglich gemacht. Wir wollen auf den günstigen Augenblick warten, wo wir wieder in der Lage sein werden, unsere Stimme zugunsten des Friedens ertönen zu lassen. Vor allen Dingen werden wir uns bei dem künftigen Friedensschluss vernehmen lassen müssen. Denn da wird es sich darum handeln, ob wirklich nur eine Länderverteilung mit Waffenstillstand vorgenommen werden soll, oder wirklich ein auf fester Grundlage beruhendes Staatensystem gegründet wird.


1 Hofrat Lammasch in seinem Artikel des N. Wiener Tagblatt vom 28. Juli «Krieg» ?