Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

10. August 1914.

Das Wolffsche Bureau meldet unterm 8. August über die Veröffentlichung von Dokumenten seitens der russischen Regierung, die die Schuld für den Ausbruch des Krieges der deutschen Regierung zuschieben. Es heisst in dieser Veröffentlichung: «Die russische Regierung stellt darin die Behauptung auf, Deutschland habe den letzten Vermittlungsvorschlag Sir Edward Greys abgelehnt. Diese Behauptung ist unwahr. Deutschland hat im Gegenteil den letzten Vorschlag Sir Edward Greys, Österreich-Ungarn möchte nach Besetzung Belgrads und serbischen Territoriums in Verhandlungen eintreten, in Wien nachdrücklich unterstützt. Die hiermit angestrebte Vermittlung ist aber durch die russische Mobilisation illusorisch gemacht worden.

Ferner behauptet die russische Regierung, die deutsche Regierung habe, während die Verhandlungen im vollen Gange waren, die Mobilisation angeordnet, ein Ultimatum gestellt und den Krieg erklärt. Diese Darstellung ist falsch. Die russische Regierung stellt die Tatsachen direkt auf den Kopf. Noch Donnerstag, den 30. Juli, wurde dem russischen Minister des Äussern vom kaiserlichen Botschafter eröffnet, dass die Vermittlungsaktion der kaiserlichen Regierung fortgesetzt werde und dass die Antwort auf den letzten vom Berliner Kabinett in Wien getanen Schritt noch ausstehe. Die am nächsten Morgen bekannt gewordene Mobilmachung der ganzen russischen Armee und FIotte musste unter diesen Umständen in Deutschland umsomehr als Provokation wirken, als vom russischen Generalstabschef wenige Tage vorher dem deutschen Militärattache versichert worden war, dass im Falle des Überschreitens der serbischen Grenze durch Österreich-Ungarn nur die russischen Militärbezirke an der österreichisch-ungarischen, nicht aber an der deutschen Grenze mobil gemacht werden würden.»

Das ist eine peinliche Auseinandersetzung. Man wird das Empfinden nicht los, dass vielleicht doch ein Missverständnis obwaltete, das durch die auf beiden Seiten herrschende grosse Spannung nur gefördert wurde, das aber durch eine nochmalige Vorstellung bei Russland vielleicht doch hätte aufgeklärt werden können. Es handelte sich doch um die Wahl zwischen Krieg und Frieden. Aber angenommen, dass auf russischer Seite wirklich eine mala fides vorlag, so müsste doch die Vermutung naheliegen, dass es sich um Handlungen kampflustiger Unverantwortlicher handelte, die den zum Frieden geneigten Zaren (der in der Depesche vom 29. Juli Kaiser Wilhelm um Hilfe anrief) mit fortreissen wollten. Auch diese Gefahr hätte durch eine nochmalige Vorstellung in Petersburg hintertrieben werden können. Immer deutlicher wird es, dass hier geschickte Macher den Bruch herbeigeführt haben, dass es ihr Bestreben war, eine «Lage» zu schaffen, die zum Krieg führen musste. Diesem hätte vorgebeugt werden müssen.

Vielleicht hat uns hier unsere technische Kultur, auf deren Errungenschaften wir so stolz sind, einen argen Streich gespielt. Angenommen wir hätten keinen Telegraphen und unsere diplomatischen Noten müssten durch Estafetten bestellt werden, so wäre doch der Zeitpunkt zwischen der Empörung und der entscheidenden Handlung um so vieles verlängert worden, dass der Einfluss der ersteren auf die letztere sicherlich eine wohltuende Abschwächung erlitten hätte. Aber im Zeitalter des Telegraphen lauten die Ultimatumfristen auf 18, auf 12 Stunden. Dem beruhigenden Einflüsse wird da jede Kraft genommen. Hiezu tritt noch jene Zuspitzung der Bereitschaft, die in dem Versäumnis weniger Stunden bereits einen uneinbringlichen Nachteil der Schlagkraft erblickt. So weit haben wir es also mit unserem «para bellum» gebracht!